Textatelier
BLOG vom: 23.05.2009

Dr. Adolf Kussmaul: Jugenderinnerungen eines alten Arztes

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D 
„Hatte, gottlob! einen guten Magen,
Kraut und Rüben konnt´ ich vertragen,
Bin gesund, bin frisch geblieben,
Habe mich auch nicht krumm geschrieben.“
(Adolf Kussmaul)
*
„Kaum war als Arzt ich approbiert,
Mit bester Note ausstaffiert,
So schüttelt mich das Fieber ernst:
Nun sorge, Kerl, dass du was lernst!“
(Adolf Kussmaul)*
„Jugenderinnerungen eines alten Arztes“ so heisst das Werk von Dr. Adolf Kussmaul (1822 bis 1902). Er war Militärarzt, lehrte an den Universitäten in Heidelberg und Erlangen das Fach Psychiatrie. Später wurde er Arzt in Freiburg und Landarzt in Kandern. Seine Praxis umfasste das Gebiet Hochblauen bis zum Isteiner Klotz. Bei jedem Wind und Wetter war er zu Fuss, zu Pferd oder im leichten Wagen unterwegs.
 
Im Vorwort schrieb er folgenden Vierzeiler: 
„Musst du Gram im Herzen tragen
Und des Alters schwere Last,
Lade dir aus jungen Tagen
Die Erinnerung zu Gast. 
Hier einige bemerkenswerte Geschichten aus seinen Lebenserinnerungen.
 
Kussmaul, ein sonderbarer Name
Im ersten Kapitel lässt er sich über Geschlecht und den sonderbaren Namen aus. Das Geschlecht Kussmaul ist schwäbisch. „Der Stifter des badischen Zweigs war ein Tischler dieses Namens, der 1701 aus Württemberg nach dem Pfarrdorf Soellingen bei Durlach zog und hier eine Soellingerin zur Frau nahm“, schrieb der Autor.
 
Der Name gab oft Anlass zur Heiterkeit, manchmal auch zur Verlegenheit. Als er einmal bei einer öffentlichen Auktion etwas ersteigerte und seinen Namen dem Auktionator zurief, verbat er sich den Spass, während das Publikum lauthals lachte.
 
Während seiner Zeit in Heidelberg und Erlangen befasste er sich unter anderem mit psychologischen Studien und war mit der Entwicklungsgeschichte der Seele beschäftigt. Er publizierte die Ergebnisse in einer Schrift, die auch einer hohen Dame, die sich für dieses Thema interessierte, vorgelegt wurde. Als sie den Namen las, meinte sie: „Nein! Es ist unmöglich! So kann man nicht heissen!“
 
Im Grossherzogtum war der Name Kuss doch weiter verbreitet als gedacht. Anlässlich eines Balls in Karlsruhe 1849/50 wurde ein gedruckter Zettel herumgereicht, indem die Herren Kuss und Kussmaul und die Fräulein Küsswieder angekündigt wurden.
 
Arztbesuch im Dorf
Früher war es auf dem Lande noch nicht Brauch, Ärzte aus der Stadt zu holen. Vielfach mussten Kranke die Praxis in der Stadt aufsuchen. So wurde der Amtsarzt von Durlach, wie Johann Georg Kussmaul, der Vater unseres Autors erzählte, nur zwei- bis dreimal im Jahr ins Dorf gerufen. Sobald er im betreffenden Dorf auftauchte, rannten die Leute zusammen und fragten, wer denn sterben müsse? Zu jener Zeit wurde der Doktor nur geholt, wenn einer im Sterben lag.
 
Suppe anstatt Kaffee
Noch im 19. Jahrhundert wurde zum Frühstück Suppen aus Hafermehl, Kartoffelsuppe und solche aus geröstetem Mehl serviert. Dies war besonders beim Landvolk und in etlichen bürgerlichen Familien die übliche Kost. Kaffee und Schwarztee waren Luxusgüter. Adolf Kussmaul: „In dem Freiburger Krankenhause wurde bis 1864 Suppe zum Frühstück verabreicht; die Kranken, namentlich die kranken Köchinnen, rebellierten aber von Jahr zu Jahr mit grösserer Heftigkeit und blieben lieber nüchtern, als dass sie Suppe assen; man sah sich zuletzt gezwungen, Kaffee zu geben.“
 
Als 2 Damen aus Hamburg, die in Badenweiler kurten, bei der Wirtin auf Schloss Bürgeln chinesischen Tee mit Milch und Butterbrot bestellten, machte die Markgräflerin ein verwundertes Gesicht. Sie sagte jedoch nichts, sondern brachte bald darauf die bestellte Milch, das Butterbrot und einen dampfenden Lindenblütentee. „Nun war die Reihe, sich zu wundern, an den Hamburgerinnen, und sie bemühten sich vergeblich, der guten Frau begreiflich zu machen, was chinesischer Tee ist“, so der Landarzt.
 
Das hat ihm gut getan
Kussmaul erzählt von einem deutschen Arzt, der nach etlichen Jahren von Paris wieder in seine deutsche Heimatstadt zurückkehrte. In der Fremde erlernte er das Perkutieren und Auskultieren zur Diagnosestellung. In Deutschland führte er das Beklopfen und Behorchen der Brust weiter aus. Als er bei einem brustkranken und reichen Bauern mit dem Perkussionshammer die Brust bearbeitete, meinte der Patient befriedigt: „Herr Doktor, Euer Klopfen hat mir gut getan. Wann kommt und klopft Ihr mich wieder?“
 
Von niederem Stande
In vergangener Zeit liessen sich Mediziner des Öfteren herab, Mädchen aus „niederem Stande“ zu ehelichen. Zuvor wurden jedoch die „liebenswürdigen Mädchen“ entsprechend ausgebildet. 1847 holte sich jedoch ein Heidelberger Dozent bei einem jungen schlichten Kinde einen Korb als er ihr einen Heiratsantrag machte und vorschlug für eine standesgemässe Erziehung zu sorgen. Entrüstet rief ihm die Dame zu, sie habe bereits einen Liebsten und für den sei sie gut erzogen. Ihr Schatz sei „ein schmucker Fleischer, der 2 solcher schmächtigen Doktoren aufwiege“.
 
Schnelldiagnose
Ein Studiengenosse Kussmauls erwarb sich während seiner Ausbildungszeit an einer „ambulatorischen Klinik“ einen gewissen Ruf für seine reif überlegten Diagnosen, aber auch für seine Schnelldiagnosen. Er wurde Addelkader nach dem gelehrten Emir von Algerien genannt. Als ein alter Maurergeselle mit dicker Backe in die Praxis kam, war Addelkader an der Reihe, eine Diagnose zu stellen. Er trat vor, warf einen prüfenden Blick auf die Backe und meinte: „Abscessus malae (Eitergeschwulst der Backe), man muss sogleich einschneiden!“ Der Patient erschrak fürchterlich, holte einen Ballen Kautabak aus seinem Mund und die ominöse Geschwulst verschwand. Er meinte, er sei nicht krank, sondern sollte nur über ein krankes Kind berichten.
 
„Das wird schon kommen“
3 Wochen praktizierte Adolf Kussmaul im Schlossviertel zu Heidelberg als Bergarzt. Als sein Vater zu Besuch kam, verkündete er stolz, er habe nun schon viele Patienten behandelt, und noch keiner wäre gestorben. „Das wird schon kommen“, warnte der Vater.
 
Kurz darauf behandelte er einen Alten, der mit einer „falschen Lungenentzündung“ (darunter versteht man eine Entzündung der feinsten Bronchien oder Luftröhrenäste, also Bronchitis pillaris acuta) im Bette lag. Die damals üblichen Mittel bei dieser Krankheit, Senega und Goldschwefel, halfen vorübergehend. Bei einem weiteren Besuch erkundigte sich der Arzt nach seinem Befinden. Er lobte die Mittel, aber er brauche kräftigere Arzneien zur Weckung seiner Lebensgeister. Daraufhin bekam er „China“ (homöopathische Bezeichnung für Chinarindenbaum), Kampfer und Benzoe und die Empfehlung alten Wein zu trinken. Der Arzt verliess mit gutem Gewissen den Patienten, hatte er doch das Beste verordnet. Als der Arzt kurz darauf wegen einer Mandelentzündung selbst das Bett hüten musste und nichts mehr vom Patienten hörte, war er der Meinung, er sei wieder gesund. Kaum bei Kräften, ging der Arzt in das Haus des Patienten und traf seine Frau in tiefer Trauer an und begrüsste ihn mit den Worten: „Herr Doktor, Sie suchen den Jakob. Er ist bald nach ihrem letzten Besuche, mitten in der Nacht, aus diesem irdischen Leben geschieden. Gestern haben wir ihn beerdigt. Ihre Arzneien haben ihm bis zur letzten Stunde gut getan.“
 
Es war der erste Patient des jungen Arztes, der das Zeitliche gesegnet hatte.
 
Hahnenfuss gegen Rheumatismus
Hofrat Schelver, der von 1806 bis 1824 als Professor der Botanik in Heidelberg wirkte, befasste sich mit magnetischen Heilweisen und Kräuterkuren. Er war beim Landvolk als Wunderdoktor sehr beliebt. Eines Tages wollte eine Bauersfrau für ihren Mann ein Mittel gegen Rheumatismus. Ihr Mann leide schon seit geraumer Zeit an „Fluss“ im rechten Arm, er könne ihn nicht gebrauchen. Der Hofrat riet ihr einen Umschlag mit dem scharfen Hahnenfuss. Daraufhin ging die treue Seele in den Stall, schlachtete einen Hahn und legte die Füsse auf die schmerzende Stelle ihres Mannes. „Der Fluss heilte, und der Professor erfuhr mit Verwunderung, welche Heilkraft in den Beinen eines alten Haushahns gesteckt habe“, so Kussmaul.
 
Wunderkur
Johann Georg Kussmaul hatte eine Landpraxis in Graben. Hier eine ergötzliche Geschichte, die er seinem Sohn erzählte:
 
Eines Tages kam ein Bote aus einem entfernt liegenden Dorf in seine Praxis und sagte, ein Bauer fühle sich schon seit einigen Wochen übel, habe wenig Appetit und er sei schon gehörig abgemagert. Er brauche jedoch den Kranken nicht sofort zu konsultieren, aber er verlange nach einer passenden Arznei. Kussmaul gab dem Boten eine Eibischabkochung in Sirup mit und dachte sich, diese Medizin würde keinesfalls schaden. Als der Arzt den Patienten einige Tage später besuchte, ass er bereits eine gebratene Taube und trank ein Glas Wein dazu. Vergnügt begrüsste er den Arzt: „Herr Doktor, das habt Ihr gut gemacht, aber es war eine Rosskur, sie hat mich gründlich ausgefegt und die Krankheit ausgetrieben. Zum zweiten Mal brächt` ich die Ameisen nicht hinunter, auch blieben noch einige übrig in dem Arzneifläschchen, es steht dort am Fenster.“
 
Er betrachtete den Inhalt der Flasche und gewahrte jede Menge Ameisen. Wie kamen diese in die Arznei? Nun, er fand dies bald heraus. Der Bote, es war der Knecht des besagten Bauern, überkam auf dem Nachhauseweg Müdigkeit, er legte sich unter einen Baum und das Fläschchen zur Seite. Als er aufwachte, war der Stöpsel der Flasche ausgetrieben. Wahrscheinlich wanderten die Ameisen in langer Prozession von einem nahegelegenen Ameisenhaufen zur süssen Versuchung. Der Erwachte stöpselte eilig die Flasche wieder zu und brachte sie dem Kranken. Dieser konnte „die Arznei samt Ameisen nach Vorschrift stündlich einen Esslöffel geniessen.“
 
Beschwerliche Fahrt nach München
Wie beschwerlich und lang eine Fahrt mit der Eisenbahn in frühen Jahren war, erzählt Kussmaul in einer Episode:
 
„Den Weg von Heidelberg nach München legt man heute (Ende des 19. Jahrhunderts) mit dem Schnellzug bequem in acht Stunden zurück. Damals war von der ganzen Strecke, die wir von Wiesloch bis Bruchsal und der grösseren am Ende der Reise von Augsburg bis München mit Schienen belegt, durch ganz Württemberg und von Ulm bis Augsburg mussten wir den Eilwagen benützen. Wir kamen am ersten Tag abends nach Stuttgart, nachdem wir in Vaihingen an der Enz Mittag gemacht hatten, fuhren eng zusammengepfercht die Nacht hindurch bis Ulm, wo wir halb gerädert ankamen, wurden in Günzburg passpolizeilich genau verhört, und verbrachten die zweite Nacht zu Augsburg in den altberühmten drei Mohren. Erst am dritten Tage erreichten wir München.“
 
Nicht verstanden?
Nach der Märzrevolution war das Lateinische in den deutschen Kliniken verpönt. Nur einmal machte Kussmaul vom Lateinischen vor einer versammelten Studentenschar Gebrauch. Er wollte nicht, dass ihn ein Gärtnerbursche verstehen würde. Er kam jedoch an den Falschen, wie die folgende amüsante Geschichte beweist. Auf alle im reinsten Hochdeutsch gehaltene Fragen des Arztes gab der Bursche nur ein stereotypes Lächeln oder einfältige Antworten von sich. Die Studenten wurden schon ungehalten und Kussmaul meinte auf Lateinisch, man solle bei Patienten niemals die Geduld verlieren und jeder solle daran denken, dass nicht jeder das Glück hatte, aufs Gymnasium zu gehen, um eine entsprechende Bildung zu erlangen. Nach dieser Erklärung lachte der Patient lauthals und auf die Frage, warum er denn so einfältig lache, entgegnete er: „Ei! Ich muss lachen, weil ich auch Gymnasiast gewesen bin.“
 
Schon die Kleinen bekamen Wein
In seinen Erinnerungen beschreibt Kussmaul die Trinkfestigkeit der Markgräfler: „In manchen Orten wird mehr Wein getrunken als Wasser“, äusserte er einmal. Auch wunderte er sich, dass schon kleine Kinder ihren Schoppen bekamen. „In vielen Bauernhäusern erhielten schon die Kinder bei Tische Wein, sobald sie das Alter erreicht hatten, um mitzuspeisen, je nach dem Alter erhielten sie die gefüllten Weingläser in abgestufter Grösse vorgesetzt.“
 
Der Wein war als Stärkungsmittel auch bei Hebammen sehr beliebt. „Sie liessen die Frauen, um die Geburt zu erleichtern, ein Glas um das andere trinken, ich sah nur Nachteil davon, es erschwerte und verzögerte den natürlichen Hergang. Es gab Leute, die täglich 4, 5 und mehr Flaschen Wein tranken“, wie der Autor bemerkt. Das Trinken begann schon beim zweiten Frühstück, dem „Nüni“. Die Arbeiter verspeisten Brot, Käse, Speck und Fleisch, dazu tranken sie den Nüniwein. Zu bemerken wäre jedoch, dass die Leute meistens schon um 5 Uhr ihr Frühstück, in Form einer Morgensuppe, eingenommen hatten und dann die Arbeit aufnahmen. Die Schnitter erhielten während der Ernte 12, 16 und mehr Schoppen täglich! Der Erntewein war jedoch schwächer und sehr durstlöschend. Dr. Kussmaul: „Ungeachtet dieses reichlichen Weingenusses waren wirkliche Trunkenbolde und Säufer doch nicht häufig. Ein Räuschchen ab und zu galt für erlaubt.“
 
Was waren das für gute Zeiten! Komasäufer unter Jugendlichen waren, im Gegensatz zu heute, nicht bekannt.
 
Kerngesunder Bauer
Adolf Kussmaul litt als Folge einer Krankheit lange Jahre unter Beinbeschwerden mit zeitweiligen Lähmungserscheinungen. Eines Tages kam ein grosser, kräftiger Bauer, der nicht wusste, dass der Arzt erkrankt war, in die Praxis und wollte ihn zu seinem kranken Kind holen. Kussmaul wies ihn an, einen Kollegen in Kandern zu konsultieren. Beim Hinausgehen seufzte Kussmaul: „O, dass ich meinen lahmen Leichnam gegen den kerngesunden Leib dieses Bauern umtauschen dürfte!“ Als 8 Tage später der Kollege ihn besuchte, wollte Kussmaul wissen, wie es dem Kinde ergangen sei. „Das Kind“, erwiderte er, „ist rasch genesen, aber der Bauer tot.“ Kussmaul rief „Unmöglich!“ Doch es war so, der Kerngesunde hatte das Zeitliche gesegnet. Von nun an hat der Arzt niemand mehr um seine blühende Gesundheit beneidet.
 
Anmerkung: Als ich im Internet stöberte, entdeckte ich eine „Adolf-Kussmaul-Grundschule“. Die Ganztagsschule befindet sich in Graben-Neudorf (www.kussmaul.de).
 
Internet
Heinz Scholz: „Kurioses über Mediziner und Forscher“, In diesem Textatelier.com-Artikel (unter „Glanzpunkte") sind 3 Anekdoten über Kussmaul aufgeführt.
 
Literatur
Kussmaul, Adolf: „Jugenderinnerungen eines alten Arztes“, Verlag Adolf Bonz, Stuttgart 1906.
 
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