Textatelier
BLOG vom: 24.09.2009

Ähren-Trockenmauern, die Landschaften die Krone aufsetzen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Mauern können Ausdruck von feindseligen Gesinnungen sein, so etwa die ehemalige Berliner Mauer oder die grässliche Apartheid-Mauer, welch letztere Israel auf Palästinenserland zur Unterdrückung und Aushungerung der Nachbarn bauen liess. Mauern können auch ein Schutzbedürfnis befriedigen (wie die früheren Stadtmauern), ein Bestandteil von Bauwerken oder eine Einfriedung (Garten- und Weidemauern) sein, Hänge stabilisieren und je nach ihrer Bauart und Funktion Ärger oder Begeisterung hervorrufen. Eine Zeitlang wurden für Umgebungsgestaltungen oft verschiedene Typen von Normsteinen verwendet, heute vor allen Natursteinquader, wobei der Sinn für Proportionen oft fehlt, insbesondere in Einfamilienhausquartieren. Wenn ein bescheidenes Einfamilienhäuschen auf Riesenfelsbrocken steht, stimmt etwas nicht.
 
Zu den erfreulichen Kulturleistungen gehören die Trockenmauern, die in der hügelig-gebirgigen Schweiz vielerorts, zum Beispiel in den Rebgebieten der Westschweiz, ganze Landschaftsbilder prägen. Es sind elastische, mit dem Boden verwachsene, kunstvoll gefügte Bauwerke, deren Anblick Begeisterung auslöst. Auch im Kettenjura und in der Bündner Herrschaft gibt es Hunderte von Kilometern von solchen Kulturobjekten, die natürlich regelmässig unterhalten werden müssen, wenn sie vielen Generationen dienen sollen. In unserer auf Rationalisierung und Rendite bedachten Gesellschaft sind sie vielerorts gefährdet.
 
Zum Glück gibt es die Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz SUS (www.umwelteinsatz.ch), deren Mitglieder in den ohne Mörtel gebauten Trockenmauern „Zeitzeugen, Kulturgut und Lebensraum für Tiere und Pflanzen“ erkennen, welche als Weidemauern (so etwa im Jura), dem Wind- und Lawinenschutz (zwischen dem Berninapass und dem Puschlav) oder als Stützmauern (zur Terrassierung von Steilhängen wie Rebbergen) fungieren. Seit 1994 baut die SUS mit Zivildienstleistenden, freiwilligen Erwachsenen und Jugendlichen in der ganzen Schweiz anspruchsvolle Trockenmauern, oder aber bestehende Bauwerke werden fachkundig restauriert, wobei ein altes Handwerk wiederbelebt wird.
 
Jede Trockenmauer hat ihren eigenen Charme, je nach Art und Grösse der verwendeten Steine – in der Regel sind es solche aus der unmittelbaren Umgebung, also Lesesteine – und ihrer Bauart. Einer ästhetisch besonders gelungenen Art des juratypischen Mauerbaus begegnet man häufig in der Romandie, so auf dem Chasseral, am Col de l’Aiguillon, am Mont Tendre und im Gebiet Le Soliat oberhalb des Creux-du-Van, auch in den Freibergen. Sicher sind diese Hinweise unvollständig – ich verspreche, in Zukunft noch mehr in der Westschweiz zu wandern ... Die mit künstlerischem Geschick gefügten Mauern sind hinsichtlich ihrer Konstruktion Musterbeispiele von Begabung in Eleganz, wie sie gerade auch zur Westschweiz gehören.
 
Die oft kilometerlangen Mauern begrenzen die Viehweiden und verschonen auch Wanderer vor Abstürzen über Felspartien. Das Rindvieh kann sich dort den würzigen Kräuter-Festmahlen gefahrlos hingeben. Die Hohlräume in den Weidemauern werden von Pflanzen wie seltenen Moosen besiedelt und sind wertvolle Zufluchtsorte für Eidechsen, Nagetiere, Vögel und viele wirbellose Tiere wie die Aspisviper (Juraviper).
 
Die einzigartige Schönheit der Mauern, wie man sie vor allem im Westschweizer Jura findet, ergibt sich daraus, dass die grossen Abdecksteine, welche die Krone bilden, nicht waagrecht, sondern senkrecht oder schräg stehend gefügt wurden. Ihren besonderen ästhetischen Reiz entfalten sie dadurch, dass die Steine unförmig sind, von Erosionsprozessen beliebig geformt, mit geradezu erotisch wirkenden Rundungen versehen. Deshalb braucht es eine unwahrscheinliche Begabung und Geduld, Steine auszuwählen, die möglichst gut ineinander passen, damit die Fugenbreite gering und die Stabilität der so genannten Rollschicht gewährleistet ist, ohne dass man die Steine – oft wahrscheinlich Lesesteine (aufgelesene Steine) von den Weiden – intensiv bearbeiten muss.
 
Solche Mauern haben ihre Vorbilder aus dem Altertum und Mittelalter: Opus spicatum (lat. „Ährenwerk“ von lat. spica = Ähre). Damit wird ein Mauerwerk aus Steinen oder dünnen Ziegelsteinen bezeichnet, die in Lagen hochkant abwechselnd schräg gegeneinander versetzt angeordnet werden und so ein ähren- bzw. fischgrätenartiges Muster bilden. Daraus ergibt sich ein lebendiges, ja beschwingtes Gesamtbild.
 
Ich könnte mir vorstellen, dass diese Schrägstellung die Stabilität der Trockenmauern insofern erhöht, als der Kronenbereich wegen der Verzahnung der einzelnen Platten kompakt wird. Würden die Platten einfach waagrecht darauf gelegt, könnten sie durch mechanische Einwirkungen oder auch durch Sturmwinde leichter weggeschoben werden.
 
Bei jeder Art von Trockenmauer muss versucht werden, die Haltbarkeit zu verlängern, eine anspruchsvolle Aufgabe. Ein Unterhalt muss sein, damit diese Kulturobjekte nicht von der Natur zurückerobert werden. Doch überall finden sich meist freiwillige Helfer zusammen, um zerfallende oder zerfallene Trockenmauern zu reparieren. Seitens des Fonds Landschaft Schweiz (FLS) wurden solche Projektvorhaben innerhalb von 10 Jahren mit Beiträgen von über 4 Mio. CHF unterstützt. Seit 1997 erhält die Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz (SUS) für ihre Tätigkeit jährlich einen Beitrag seitens des FLS von 100 000 CHF. Das Geld ist sehr gut investiert – im Interesse von Natur und Naturfreunden.
 
In diesem Zusammenhang liegt es mir dran, auf das Büchlein „Trockenmauern. Anleitung für den Bau und die Reparatur“ hinzuweisen, das 1996 als eines der „20 schönsten Schweizer Bücher“ galt und im Verlag Haupt, Bern, erschien. Es ist tatsächlich eine gepflegt aufgemachte Anleitung für den Trockenmauerbau in allen Geländelagen; die Autoren sind Richard Tufnell, Frank Rumpe, Alain Ducommun und Marianne Hassenstein. In Wort und Bild wird der Leser in ein altes Handwerk eingeführt, das von einem überlieferten Erfahrungswissen profitiert. So darf, um ein Beispiel zu nennen, nie ein Stein auf die Mauer fallen gelassen, sondern er muss immer mit Gefühl gesetzt werden. Ansonsten würden die darunter liegenden Steine aus ihrem Sitz geschlagen und wieder zu wackeln beginnen.
 
Die Trockenmauern sollen ja lange ihren Dienst versehen können – im Unterschied etwa zu Mauern, die eine Schande für ihre Erbauer sind, den Frieden stören und die man besser gleich abbrechen würde.
 
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