Textatelier
BLOG vom: 09.06.2010

Max Frisch: Wie Verdichtetes nicht zum Vernichteten wurde

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Max Frisch wollte nicht, dass die „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ veröffentlicht werden. Es war ja wohl seine Privatsache, für den privaten Hausgebrauch gelegentlich ein paar Notizen über die Welt und seine persönliche Befindlichkeit zu machen, zumal das Schreiben, Notieren, Hinkritzeln ja die Berufskrankheit von Schriftstellern ist. Zu viel anderem sind sie nicht zu gebrauchen. Jedermann darf die Freiheit wahrnehmen, Dinge zu tun, die nichts nützen. Manchmal ist das Aufschreiben eine „verzweifelte Notwehr“, wie Frisch im ersten „Tagebuch 19461949“ vermerkt.
 
Als im geheimen Teil des Max-Frisch-Archivs in Zürich eine Kopie des 3. Tagebuchs, angeblich entstanden ab dem Frühjahr 1982, gefunden wurde, feierten dies Literaturwissenschaftler und Medien, als ob im Pausenhof der ETH eine währschafte Goldader oder ein grösseres Erdölvorkommen entdeckt worden sei. Vorabdrucke einzelner Passagen wurden publiziert, um den Hunger der Menschheit nach frischem Frisch zu stillen. Ich hatte vom Lobgesang des Schweizer Literaturwissenschaftlers Peter von Matt, Vorsitzender der Max Frisch-Stiftung in Zürich, gehört, der von einer „Arbeit der Verdichtung, des Schliffs, der gesteigerten Prägnant, aber auch des Verzichts auf inhaltliche Details um der Form willen“ schwärmte. Ich liess mich beeindrucken, kaufte die bei Suhrkamp erschienene Trouvaille, warf aufs Geratewohl 31 CHF hinaus und stürzte mich auf den Text.
 
Hier ein Muster von Verdichtung: „Dass ich Alkoholiker sei, habe ich früher schon gesagt. Jetzt ist es keine Koketterie mehr. Ich bin Alkoholiker. Nur einer Klinik gelingt der völlige Entzug“ (Seite 71, Datumsangaben fehlen).
 
Die Verdichtung liesse sich meiner Ansicht nach problemlos weitertreiben: „Ich bin Alkoholiker.“ Oder noch dichter, ganz dicht: „Alkoholiker.“
 
Bruchstücke geben wenig her, und als Leser möchte ich mich eigentlich lieber an vollendeten, runden Darstellungen erlaben und nicht zwangsläufig zum Puzzler werden müssen. Die Kürzestform, besonders wenn sie wie bei Frisch den hohen Rang von Aphorismen nicht erreicht, kann auch eine Ausgeburt eines Ekels vor der Schreibmaschine sein, den Frisch durch Versuche mit Handschrift, einmal auch mit Hilfe des Tonbands, zu überwinden trachtete. Ich glaube nicht, dass sich einer die Mühe des ausführlichen Schilderns macht, wie Frisch das in den vorangegangenen Tagebüchern (1950 und 1972) noch tat, dem das Schreiben mit der Zeit zuwider ist.
 
Frisch lebte zwischen 1980 und 1984 in New York, zusammen mit der deutlich jüngeren Alice Locke-Carey. Dort reflektierte er gelegentlich über die USA während der Ronald-Reagan-Administration. „Wie dieses Amerika mich ankotzt“, schrieb er gleich im 1. Tagebucheintrag (Seite 7), als er draussen auf einer eisernen Feuertreppe im 5. Stock hockte. Ich kann diese Trostlosigkeit nachempfinden, würde es mir niemals antun, auch nur ein paar Monate dort zu leben. Frisch brachte die Lösung auf 4 Worte: „LOVE IT OR LEAVE!“
 
Währenddem er sich hinsichtlich der USA für eine aufgezwungene Liebe entschloss, entschied er sich als Schweizer zeitweise für die Flucht aus seinem Heimatland, wenn man diesen Ausdruck in diesem Zusammenhang überhaupt gebrauchen darf, worauf er merkwürdigerweise dann doch wieder zurückkam. Wie Berufskollege Friedrich Dürrenmatt empfand er die Heimat als Enge, Gefängnis. Dürrenmatt, Schrittmacher der frühen, ungestümen literarischen Globalisierer, welche die Unterwerfung an Grossmächte erzwingen wollten, bezeichnete in seiner Rede bei der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises am 22.11.1990 die Schweiz als „Groteske“ ... „als ein Gefängnis, als ein freilich ziemlich anderes, als es die Gefängnisse waren, in die Sie geworfen wurden, lieber Havel, als ein Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben. Weil alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität.“ Dass sich genau dieses „Gefängnis“ innerhalb der unhaltbaren, zerstörerischen neoliberalen Globalisierung als regelrechtes Erfolgsmodell herausstellen sollte, haben weder Dürrenmatt noch Frisch, diese Stürmer und Dränger, erleben müssen. Wenn sie wollen, können sie sich ja noch im Grab umdrehen.
 
Bei der Vorbereitung der Max Frisch gewidmeten Ausgabe 12-1991 der Kulturzeitschrift „du“ gehörte dies zu Frischs letzten Worten (im Editorial von Dieter Bachmann sicher zuverlässig übermittelt): „Mach bitte keinen Schweizer aus mir.“ Frisch wollte also kein beschränkter Nationaldichter sein. Das wäre ihm zu eng gewesen, versteht sich.
 
Genauso funktionierte nach der 68er-Bewegung der grösste Teil der Schweizer Literatur. Wer anderer Meinung war und zur Schweiz stand, galt als eingeschränkt, geistig beschränkt. Frisch mochte nicht mehr umdenken: „... ich scheue mich zu wissen, was ich eben erfahre. Was für mein Bewusstsein fällig wäre, liegt haarscharf neben der Langeweile. Offenbar verdränge ich, was ich durch das Alter erfahre, und deswegen habe ich nichts zu sagen“ (Tagebuch 3, Seite 35).
 
So bleiben dann eben noch Hinweise auf die (auch) geschlechtliche Impotenz; doch nicht einmal auf sie ist immer Verlass (Seite 36). Es sind nicht frische, sondern abgeschlaffte Notizen, die Frisch selber verworfen hat – er nahm wohl an, sie seien vernichtet. Mit deren Publikation wurde dem Autor kein Dienst erwiesen. Einige Gedanken daraus hat er für die Trauerrede für seinen Freund Peter Noll verwurstet. Viel mehr geben sie nicht her.
 
Auch die kleinen innerfamiliären Streitereien auf Kehrichtsackniveau werden nicht eben auf einem literarischen Hochparterre abgehandelt: „Wenn Frauen, die keinen Beruf ausüben, weil sie mit mir leben, sich als Hausfrau behandelt fühlen, missbraucht als Magd, so bin ich bestürzt. Denn ich bin für die Emanzipation, die Revolution des Verhältnisses zwischen Frau und Mann. Nur nähen kann ich nicht, das gebe ich zu. (...) Hingegen kann ich immer noch Holz hacken (im Tessin) und Kehrichtsäcke hinunterbringen im Lift (in Manhattan und in Zürich) und es tut mir leid, wenn ich wieder vergessen habe, dass zugleich ein frischer Kehrichtsack in den Eimer gehört; solche Nachlässigkeit kommt immer wieder vor.
 
,Ich werde ein Greis.'’“
 
Wie zusammenlebende Menschen wegen Kehrichtsäcken in Lebenskrisen geraten können, bleibt mir unverständlich, nachdem ich persönlich das Abfuhrwesen und viele andere wenig beliebte Aufgaben von Anfang an zur Männersache (ich habe nich "Chefsache" gesagt) erklärt habe. Immerhin erfährt der Frisch-Leser freundlicherweise noch, wie man auch jenseits des Kehrichtsachgerangels ein Greis wird: „Man wird ein Greis, wenn man sich zu nichts mehr verpflichtet fühlt, wenn man nicht meint, irgendjemand in der Welt irgend etwas zu schulden, und dazu braucht einer noch nicht am Stock zu gehen oder im Rollstuhl zu sitzen; es gibt auch wanderfähige Greise.“
 
So fand der Globalist Frisch bei seiner Vergreisung auf sich selber, seine kleine Welt und zu seinem persönlichen Elend zurück. Dass ohnehin alles literarische Tun, abgesehen von Preisverleihungen, für jene, die sich dem akzeptierten Zeitgeist unterordneten, für die Katz’ ist, wusste er schon im Tagebuch 1950: „,Wenn die Schriftsteller und Dichter einen wirklichen Einfluss hätten’, sage ich: ,vielleicht wäre vieles anders in der Welt!’“
 
Frisch schrieb „anders“, nicht „besser“. Und nach alledem, was ich aus der Schweizer Literatur zwischen 1968/70 und Anfang der 1990er-Jahre erfahren habe, bin ich ehrlich dankbar, dass es solch einen wirklichen Einfluss tatsächlich nicht gibt, sonst wären wir jetzt übel dran. Die beengten Schweizer Literaten hatten sich dem Psalm 24, 7‒10 verschrieben: 
„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehren einziehe.
Wer ist derselbige König der Ehren?
Es ist der Herr, stark und mächtig im Streit.“ 
Er, Frisch, erkannte zu spät, als er schon müde und resigniert war, dass für die im Streit mächtigen Herren in Amerika (USA) der Krieg „die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln ist“ (Seite 79). Das kann doch nicht eine ehrenhafte Lebensmaxime sein. Das ist verbrecherisch. Ein Kriegsverbrechen.
 
In seinem Todesjahr kanzelte Max Frisch die Schweiz noch schnell brutal ab. Sie sei „verludert“, lautete sein Verdikt. Auch so eine Verdichtung, offenbar weil er sich –ver-dichtet hat, wobei die Vorsilbe hier ausdrückt, dass etwas falsch gelaufen ist. Zwar ärgert sich die Schweiz jetzt über einen führungsschwachen Bundesrat, weil bei Wahlen in der Bundesversammlung oft politische Ränkespiele und nicht die Befähigung massgebend sind. Die Schweiz besitzt Fehler und Schwachstellen, die ausgebessert werden müssen. Doch als Land steht sie innerhalb der universalen Verluderung vergleichsweise dennoch eindeutig besser und solider als jedes andere da.
 
Dies haben wir unter anderem dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass die Schriftsteller der Dürrenmatt-Frisch-Generation wohl für etwas Klamauk sorgen durften, aber auf die Praxis keinen wirklichen Einfluss hatten. Und sollte auch noch ein viertes Frisch-Tagebuch auftauchen, was ich nicht hoffe, würde sich daran auch nichts ändern. Dieser Trost tut gut.
 
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