Textatelier
BLOG vom: 09.07.2010

Turtmanntal 1: Dorf mit den alten Steinhäusern für Patrizier

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Meine Kenntnis des Turtmanntals beschränkte sich bis vor kurzem auf das Wissen, dass es dort einen hervorragenden Raclettekäse gibt. Der Walliser Schriftsteller Hannes Taugwalder (1910‒2007) und seine Frau Elsie bestritten jeweils ihre traditionellen Racletteabende im Spätherbst mit Käse aus Turtmann VS, weil dies der beste von allen sei, wie Hannes sagte und wovon wir uns überzeugen konnten.
 
Das Dorf Turtmann (630 m ü. M., Bezirk Leuk) befindet sich zwischen Sierre und Visp, am südlichen Talrand am Fusse des Bergs Bella Tolla, der auf 3025 Höhenmeter ansteigt, also auf der linken Seite des Rotten, wie man der jungen Rhone im Wallis sagt. Viele alte Steinbauten, die den Geist der Walliser Architektur aus dem 16. und 17. Jahrhundert atmen, ergeben ein sehenswertes Ortsbild. Dazu muss man sich von der Durchgangsstrasse E62 entfernen; erst dann verschwindet der Eindruck, es handle sich bei Turtmann nur um ein landläufiges Strassendorf. Aus der Zeit vor 1600 stehen südhangwärts noch 20 bewohnte Häuser, aus der darauffolgenden Epoche noch mehr. Von der noch älteren spätgermanischen Siedlung, die einem „Throtman“ gehört haben soll, ist natürlich nichts mehr zu sehen.
 
Strassenallee
Der Bau der Landstrasse durch den Turtmanngrund, die weitgehend noch von Pappeln gesäumt ist, wurde in den Jahren 1810‒1812 von Napoleon befohlen, zumal das Wallis 1800 als Département du Simplon Frankreich angegliedert wurde. Wahrscheinlich wurden die Baumreihen als Schattenspender für Zugtiere und Menschen gepflanzt. Ich rechne es dem Wallis hoch an, dass diese Baumreihen, welche die Landschaft angenehm strukturieren, nicht unter dem fadenscheinigen Vorwand „Verkehrssicherheit“ gefällt worden sind, wie das anderweitig praktisch überall geschah.
 
Die Rotten-Kanalisierung
Das Dorf, das sich beidseits der Strasse erweitert hat und das ganz leicht ansteigt, wurde auf einen niederen Schuttkegel zu beiden Seiten des alten Turtmänubachs erbaut, was die Überschwemmungsgefahr verminderte, aber nicht ganz ausschloss. Der Rotten (Walliser Name der Rhone) verwandelte oft die ganze Talschaft in einen See, nahm fruchtbaren Boden mit sich und vernichtete Getreide, Hanf, Grossbohnen, Kartoffeln (Erdäpfel) und Heu. Dennoch wehrten sich die Bewohner von Turtmann zusammen mit jenen von Leuk gegen die Korrektion des Rotten und seiner Nebenflüsse, als 1862 entsprechende Pläne vonseiten des Kantons vorlagen. Sie verpflichteten sich 1864 „ohne Ausnahme und ohne je eine Entschädigung“, den Rotten „im wirklichen Bett, mit allen möglichen Wuhrarbeiten“ zu erhalten. Als armes Bauernvolk sei man nicht in der Lage, die Baumaterialien zu liefern und später die Unterhaltskosten (inkl. Anstellung eines Flurhüters) aufzubringen; zudem war der Gemeinde das Geld wegen des Kirchenbaus (1864/66) ausgegangen.
 
Heute würde man in diesem Zusammenhang von einer landschaftsschützerischen Massnahme sprechen. Doch nach einer weiteren Überschwemmung (1868) wurde der Widerstand aufgegeben, und die Kanalisierung erfolgte 1872 bis 1876/78. Die Rhone-„Korrektion“ war das grösste Walliser Bauwerk. Sie führte zu einem Gewinn an fruchtbarem Talboden, hat die Tallandschaft aber auch banalisiert, fast ein Synonym für kanalisiert, wie das dem damaligen Zeitgeist überall entsprach.
 
Für Turtmann war insbesondere der Turtmannbach (Tutzmänna, Turtmännu) eine Bedrohung; 1764 wurde sogar der Friedhof teilweise weggeschwemmt. Der Bach schnitt das Dorf entzwei, und eine Holzbrücke verband die beiden Gemeindeteile. Einer davon heisst „Dahna Briggu“ = ennet der Brücke. Nach einem weiteren Unwetter 1898 wurde die unberechenbare Turtmännu umgeleitet, das heisst, kurz nach dem Wasserfall in ein neues Bett verwiesen. Es führt am westlichen Dorfrand vorbei. Der Bach erreicht durch einen Stollen das Gebiet „Gommer“ und wird im Neugut (Randierseyu) wieder ins alte Bett geleitet. Dann strömt er dem Rotten zu, als ob nichts geschehen wäre.
 
Patrizierhäuser
Weil Turtmann bei der Reise durchs Wallis früher zu den wichtigen Etappenorten gehörte (hier wurden im durchgehenden Postverkehr oft die Pferde gewechselt), liessen hier wohlhabende Familien ihre Patrizierhäuser mit abgewinkelten Fassaden, profilierten Fenstergruppen und gelegentlich dekorativer Malereinen bauen; das Dorf stand sozusagen in Konkurrenz zum nahen und mächtigen Leuk. Einer der bekanntesten Namen ist jener von Kaspar Jodok von Stockalper (1609‒1691), der als „König des Simplons“ zu Ruhm und Vermögen gelangt war und hier ein Susthaus (ein Lagerhaus als Güterumschlagplatz) zu errichten begann; das Stockalperschloss in Brig war ein weiterer seiner Bauaufträge. Das Susthaus wurde allerdings nie vollendet, da Stockalpers Ansehen verblasste. Er wurde des Verrats beschuldigt, und die Franzosen warfen im vor, zu nahe bei den Habsburgern gestanden zu haben. Er verlor Ämter, Würden sowie das Vermögen und musste seinen Lebensabend im Exil verbringen.
 
Zu den bedeutenden Häusern in Turtmann gehören zum Beispiel das Zengaffinen-Haus, ein dreigeschossiger Massivbau (1601) bei der Kirche, an den das Perrinihaus (1470) angebaut ist, das Burgerhaus (1604), ein zweigeschossiger Mischbau mit einem Rundbogen-Eingang aus Tuffstein usw. Zu erwähnen ist auch das massige Hotel Post (1617) mit klassizistischem Eingang und Allianzwappen usf. In höchstem Ansehen ist die sogenannte Thurillji, also die Thurelle Bertschen (1662), ein dreigeschossiger Steinspeicher, der kürzlich renoviert wurde und in dessen Carnotzet (ein Kellerlokal) oft gesellige Anlässe stattfinden, und zudem kann man in diesem Haus übernachten. Die Renovation wurde von der Walliser Denkmalpflege mit einem Bronzestern geadelt. Die 1982 gegründete Stiftung Altes Turtmann (www.altesturtmann.ch) hat sich dem Dorfbild in vorzüglicher Weise angenommen und 2004 einen Kulturpfad Turtmann, einen historischen Dorfrundgang, angelegt.
 
Im Gemeindehaus
Aus einer ganz anderen Epoche stammt das verspielte Gebäude von 1925, in dem heute das Gemeindehaus untergebracht ist. Es wurde als Theaterhaus geplant und diente bis 2005 als Schulhaus: zum Thema passende Kulissenarchitektur. Hier erhielt ich, dank der Beratung von Regula Fryand-Z'Brun, Sekretärin auf der Gemeindekanzlei, am 02.07.2010, beim Start zu einer 2-tägigen Turtmanntal-Exkursion, alle notwendigen Informationen und Ratschläge in einem wunderschönen, originalen Walliser Dialekt. Frau Fryand liess mir auch einige Seiten aus der Dorfchronik fotokopieren, der ein paar Angaben für dieses Blog entnommen sind. Auch im InfoCenter von Turtmanntal-Tourismus wurde mir von Karin Eggs jede nur erdenkliche Hilfe zuteil.
 
Seilbahnfahrt nach Oberems
Um 11.30 Uhr startete die Luftseilbahn Turtmann-Unterems-Oberems (TUO), die seit 1953 auch als wintersichere Verbindung zu den weiter oben liegenden Dörfern führt. Eva schaffte es nur noch, einen Teil der Zwischenverpflegung, darunter Haselnussschnecken aus einer einheimischen Bäckerei, in den Rucksack zu stopfen und eilte mit ungebundenen Bergschuhen herbei.
 
Die untere Station ist nicht bedient, wird aber von Oberems aus überwacht. Aus dem Lautsprecher ertönte eine sonore Männerstimme, als ich gerade den Billettautomaten zu füttern begann. Ich könne am Fahrtende bezahlen, sagte die Stimme. Gut, dann wolle ich noch das Geld für die Parkplatzgebühr einwerfen, erwiderte ich. Das sei nicht nötig, für Fahrgäste sei das Parkieren gratis – ich müsse nur das Nummernschild nennen. Ich begann: „AG 4....“ – das genüge, unterbrach mich der unsichtbare Mann. „Aargauer sind bei uns selten.“
 
2 gesprächige jüngere Männer aus Oberems, einer mit einem Trottinett, stiegen dazu, und in dieser Gesellschaft liessen wir uns als Rarität durch die schwüle Sommerluft in die Höhe tragen, in der Steinadler kreisen. Die Auffahrt führte in ein kühleres Gebiet auf 1341 Höhenmetern, wo Dachse lebten und ein einst Wölfe und Bären gehaust haben. Das Rhonetal weitete sich zunehmend – Gemmipass, Balmhorn und Lötschberggebiet waren von einen leichten Dunst weich gezeichnet. Und im Talgrund, der für Bau- und Landwirtschaftszwecke dicht genutzt ist, zog sich der am Reissbrett entstandene Rottenkanal neben breiten Strassenbändern dahin. Wir vertauschten im Fluge die Zivilisationslandschaft mit einer nur zum kleinen Teil kultivierten Naturlandschaft.
 
Der Bärenpfad sollte uns zur berühmten Wasserleitung von Ergisch führen – in Begleitung des passenden Bärenhungers.
 
Jene Wanderung verdient ihr eigenes Blog; ich werde weiterhin bei der Wahrheit bleiben, unseren Nutzern keinen Bären aufbinden, sind doch die Fakten stark, aussagekräftig genug.
 
Hinweis auf weitere Blogs mit Bezug zum Wallis
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Hinweis auf weitere Blogs von Eisenkopf Werner
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