Textatelier
BLOG vom: 14.07.2011

Im Banne von Napf, Hindukusch, Himalaya und Freunden

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Nume nid gsprängt, aber gäng e chly hü.“
 
Wer nicht zufälligerweise im Emmental aufgewachsen ist, wird Mühe haben, diese Buchstabenakrobatik zu durchschauen. Ich habe sie an einer Holzwand des Restaurants Mettlenalp (Gemeinde CH-3557 Fankhaus/Trub BE) gelesen. In freier Übersetzung heisst das so viel wie: Nur keine Eile, aber immer etwas vorwärts (das Hü! bezieht sich auf den an Zugtiere gerichteten Treib- oder Haltruf).
 
Hier, im oberen Teil des Fankhausgrabens (auch Fankhusgraben genannt), 1060 Meter über Meer und am Fusse des Napf, kann man reine Alpenluft atmen und währschaft essen, zum Beispiel Älplerrösti, Hübeliwurst (Schweinswürstli nach altem Rezept) mit frischem Kartoffelsalat, Bauernbratwürste und was der urchigen Lustbarkeiten mehr sind. Die Gerichte erinnern auch umfangmässig an jene Zeiten, als das mit Geranien geschmückte Gasthaus mit dem ausladenden Krüppelwalmdach erbaut wurde: 1818. Damals wurde noch hart körperlich gearbeitet, der Kalorienbedarf war riesig. Ich war am 31.03.2007 erstmals dort gewesen. Inzwischen hat sich nichts verändert, nur dass der Fankhausgraben völlig ausgetrocknet war, obschon die vielen Täler des Napfberglands ein Beweis dafür sind, dass es hier im Allgemeinen an Niederschlägen nicht mangelt. Der Fankhausbach bestand nur aus einem staubtrockenen Geröllbett.
 
Waren Eva und ich damals ausschliesslich mit Ursula Rausser und Fernand („Sepp“) Rausser, dem bekannten Natur- und Landschaftsfotografen, zusammen, hatte sich diesmal, am 09.07.2011, der kleine Freundeskreis um 2 Personen gemehrt: Elizabeth Neuenschwander und Hansrudolf Schwarz, der zufällig wie wir in Biberstein AG wohnt und in Mägenwil AG seine international tätige Statron AG unter dem Motto „Non Stop Power“ leitet, ein Motto, das auch auf ihn persönlich zutrifft. Seine Produkte sorgen dafür, dass die Elektrizitätszufuhr für wichtige Anlagen auch bei Störungsfällen kein Sekundenbruchteil lang unterbrochen wird – das „gäng e chly hü“ reicht in diesem Sektor bei Weitem nicht mehr. Im Zusammenhang mit den sich abzeichnenden Versorgungspannen im Rahmen der Anti-KKW-Kampagnen dürften solche Technologien an Bedeutung gewinnen.
 
Abstecher nach Pakistan
Die liebenswürdigen und anregenden Raussers kenne und schätze ich seit Jahren, und in ihrer Gesellschaft fühle ich mich immer gut aufgehoben. Eine für mich neue Bekannte, die Hansrudolf Schwarz eingeladen hatte, sass mir gegenüber: Elizabeth Neuenschwander. Sie ist eine Liga für sich, und Ihr könnt Euch auf sie freuen“, hatte mir Ursula geschrieben, hohe Erwartungen weckend, die noch übertroffen werden sollten.
 
Dass Frau Neuenschwander im bevorstehenden Herbst 82 Jahre alt werden würde, konnte ich kaum glauben; aber da sie einen vollkommen vertrauenserweckenden Eindruck machte, durfte daran nicht gezweifelt werden. Sie sprach zwar von ihrem runzeligen Gesicht, was ich nicht nachvollziehen konnte. Sie wirkte mit ihrem kurz geschnittenen, zurückgekämmten ergrautem Haar, ihrer getönten Brille und der purpurfarbig, handbestickte Blouse – das Muster erinnerte mich an Pflugscharen – unter dem schwarzen Oberteil wie eine gepflegte, lebensfrohe Grossmutter – genau wie man sich diese wünschen würde.
 
Dass Frau Neuenschwander am 05.06.2011 zur ersten Ehrenbürgerin der Gemeinde Schangnau wurde, verschwieg sie mir – ich erfuhr es dann zufällig von der Wirtin des Gasthauses Bäregghöhe oberhalb von Trubschachen, wo wir später den Kaffee tranken. Marianne Kühni hatte das in der Wochenzeitung für das Emmental und Entlebuch gelesen und freute sich sehr über diesen prominenten Gast.
 
Die Ehrung von Elizabeth Neuenschwander erfolgte in Anerkennung der über 50-jährigen Tätigkeit in Entwicklungsländern für verschiedene Organisationen, insbesondere für das IKRK (Rotes Kreuz) in Indien und Nepal. 1986 richtete sie ein einzigartiges Projekt ein, das sie seit 1993 in eigener Verantwortung führt. Sie gründete in Quetta (Pakistan) unter anderem eine Grundschule für Kriegsvertriebene aus dem nahen Afghanistan. Ausbildungs- und Arbeitsangebote gehen Hand in Hand. Noch heute reist sie zweimal jährlich in jene Gebiete, um ihren Teil zur Behebung des Kriegselends beizutragen und die Selbständigkeit von Frauen zu fördern.
 
Die Kunst des Nähens
Der Mut, den diese Frau auszeichnet, ist bewunderungswürdig. In Belutschistan, dem Hochland, das sich über den Osten Irans, das südliche Afghanistan und das südwestliche Pakistan erstreckt, hat sie inzwischen etwa 7000 Frauen, die vor allem aus Afghanistan geflüchtet waren, mit einfachen Handnähmaschinen ausgerüstet, die in Pakistan hergestellt werden (Kosten: zirka CHF 50 pro Stück), und das Nähen gelehrt. Sie hatte seinerzeit den Beruf einer Damenschneiderin in Trubschachen BE gelernt, dort, wo man nach Trub und in den Fankhausgraben abzweigt. Sie arbeitete noch 1 Jahr lang für 68 Rappen pro Stunde weiter und nahm dann eine Stelle in Dänemark an, unternehmungslustig, wie sie war. Später wechselte sie ihren Aufgabenbereich und arbeitete für Hilfsorganisationen.
 
Wenn man aus dem Staunen nicht herauskommt, dann mehrt es sich noch und wird zur Bewunderung, wenn man von ihrer unkonventionellen, eigenwilligen Vorgehensweise hört. So mache sie zur Bedingung, dass nur Mädchen eine Nähmaschine erhalten sollen, die neben dem Nähen auch das Lesen und schreiben gelernt haben. Auf diese Weise bekämpft Elizabeth Neuenschwander auch den Analphabetismus. Da mir diese Vorgehensweise so sehr gefiel, machte ich die Anregung, dass bei uns nur Kinder ein Handy oder ähnliche Spielzeuge erhalten sollten, die einen vernünftigen Satz schreiben und zusammenhängenden Text erfassen können. Frau Neuenschwander ist im Sprachenlernen auch selber ein Vorbild, spricht Englisch, Französisch, Dänisch, Arabisch, Tibetisch sowie Urdu.
 
Die Helferin erzählte mir auch von einem Erlebnis in Ladakh im gebirgigen und nur schwach besiedelten indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir aus dem Jahr 1976, wo sie ein kleines Haus baute und die Umgebung mit Bäumen, aus Schösslingen gezogen, bepflanzte. Es hatte sie sehr erstaunt, dass die Menschen dort , in den Gebirgsketten des Himalaya, so wenig Bäume pflanzten, die ihre Lebenssituation verbessern würden. Bei ihrer Abreise befahl sie einem Buben, er müsse immer dafür schauen, dass die Bäume genug Wasser hätten und das Haus nicht zerfalle. Als sie nach Jahren wieder zurückkam, war das Haus tadellos in Ordnung, und die Bäume waren nicht verdurstet und zu einer stattlichen Grösse herangewachsen. Aus dem Knaben war ein junger Mann geworden, dem sie das Haus gern geschenkt hätte, was aber nicht möglich war, da bereits ein Vertreter des Dalai Lama darin wohnte.
 
Ich sprach Elizabeth Neuenschwander noch auf die Gefahren bei Aufenthalten in diesen unberechenbaren Ländern an und fragte, ob ältere Damen weniger zu befürchten hätten als jüngere Menschen. Die Frage lag im Raum, denn am 01.07.2011 ist ein aus dem Emmental stammendes Paar, David O. und Daniela W., ein Polizist und seine Partnerin, in der Region Lorali in Pakistan angeblich ins Stammesgebiet Süd-Waziristan oder nach Belutschistan verschleppt worden. Es wurde als Leichtsinn empfunden, in jenem Gebiet mit dem Wohnwagen unterwegs zu sein.
 
Elizabeth sah ihr Wirken in solchen Gebieten wenig dramatisch. Im Allgemeinen würden einzelne fremde Frauen von den Einheimischen in Afghanistan und Pakistan in Ruhe gelassen. Doch seien in den Unruhegebieten natürlich auch Angehörige anderer Stämme und Völker zugegen, und da könne man nie wissen, wie sie sich verhalten. Ihr aber ist noch nie so etwas wie eine Entführung passiert. Sie zeigte uns ihren neuen Kalender „Pakistan und Afghanistan 2012“, der bei PanGraphics in Islamabad gedruckt wurde und bei ihr für 15 CHF gekauft werden kann. Er besteht aus eindrücklichen Bildern aus jenen Gebieten und zeigt auch Mädchen, die, auf dem Boden sitzend, mit den von der tatkräftigen und zielstrebigen Helferin importierten Nähmaschinen arbeiten oder in einem einfachen Schulzimmer im Rechnen unterrichtet werden. Die Landschaft erinnert an unser Hochgebirge und ist meistens kahl.
 
Im Gasthaus Mettlenalp
Im Napfgebiet, wo diese eindrückliche Begegnung stattfand, war alles saftig grün. Während seine Frau Vreni in der Küche tätig war, trug der Gastwirt Peter Siegenthaler ganze Berge von Ämmitaler Merängge auf (Merengues), die zwar in Meiringen BE erfunden wurden, aber als Kopien im Emmental etwas grösser ausgefallen sind. Auch wer nur eine halbe Portion bestellte, wurde damit kaum fertig; die Nidle (Schlagrahm, Sahne) trug zur Volumenvergrösserung bei. Wer sich da durchkämpfte, war um die inhärenten Luftblasen sehr dankbar.
 
Sepp Rausser, der eine Pflanzenrosette auf seine kunstvolle Art fotografiert hatte, wollte uns unbedingt noch die Bäregghöhe (910 m. ü. M.) zeigen, wo ein Gasthaus im Stil der Belle Epoque steht. Der Abstecher lohnte sich: Von der mit Kastanienbäumen umrahmten Terrasse öffnet sich eine Sicht auf eine typisches, emmentalerisches Hügelpanorama zwischen Hochwacht und Houenenegg. Nur in einer solchen  Gegend konnte dieses Volkslied von ergreifender Schönheit entstehen:
 
„Dert änet-em Bärgli im Trueb han i, e luschtige Bueb,
es wunderschöns Meiteli gseh, ja gseh, wie früschi Rose im Schnee!“
 
Dunkelgrüne Wiesen umgarnen die Nadelbaumwälder dort drüben am Bergli, und die mit ausladenden Dächern versehenen Hofsiedlungen stehen verstreut wie zu den Zeiten von Jeremias Gotthelf in der lieblichen Landschaft.
 
Etwas Härdöpfeler
Dass ich hier noch einen Härdöpfeler (Kartoffelschnaps) als Verdauungshilfe geniessen konnte, hatte ich nicht erwartet. Seit Jahrzehnten bin ich diesem exklusiven und von vielen Leuten als scheusslich empfundenen Getränk nicht mehr begegnet, höchstens einmal aus einer vernachlässigten Hausbar von Bekannten. Und die Serviererin hatte bei meiner Bestellungsaufgabe noch nachgefragt, ob es mit meinem Magen denn so schlimm bestellt sei ... „Ganz schlimm“, antwortete ich. Und ich genoss diese etwas bittere und nach meinem Empfinden herrlich erdige Medizin wenn auch nicht in vollen Zügen, so doch tropfenweise.
 
Dieser Schnaps gehört heute übrigens zum kulinarischen Erbe der Schweiz. Nahrung und Tranksame sind Kultur. Kartoffeln kann man nicht einfach brennen, weil sie zu wenig Zucker haben und also nicht vergären können. Der Trick besteht darin, dass man zu den Erdäpfeln Gerstenmalz beifügen muss, damit eine Spirituose entstehen kann. Wie der Absinth, der jetzt auch im Emmental (in der Brennerei W. Kramer in CH-3412 Heimiswil) produziert wird und bei Geniessern die Schwermut vertreibt und Geisteskräfte stärkt, war der Härdöpfeler während des 20. Jahrhunderts verboten (bis 1997). Darauf mag auch Jeremias Gotthelf hingewirkt haben, der das Elend wegen des Alkoholmissbrauchs oft thematisierte. Der Schnaps war billig, ein begehrter Energiespender und oft unsorgfältig gebrannt, das heisst der Vorlauf mit dem Methylalkohol wurde nicht immer exakt abgetrennt.
 
Selbstverständlich hatten Eva und ich auf der Hinreise noch Trubschachen besucht, worüber in einem separaten Blog zu erzählen sein wird: dabei wird es unter anderem um Nachhilfe in der Brezelkunde gehen.
 
Hinweis
Adresse:
Elizabeth Neuenschwander
Obermattstrasse 15
CH-3018 Bern
 
Hinweis auf weitere Blogs über das Emmental
01.12.2006: Ein Besuch im Emmental: Milch und Käse bis über die Ohren
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