Textatelier
BLOG vom: 27.02.2012

Viaduktbau Othmarsingen: Wie man das Eisen gefügig macht

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Brücken und Brückenbaustellen habe ihre eigene Faszination – angewandte Technik, die auch den Laien begeistert. So stand ich am sonnigen Nachmittag des 22.02.2012 geradezu andächtig unter dem rund 30 m hohen Bünztalviadukt in Othmarsingen AG, der zum A1-Autobahnabschnitt zwischen Lenzburg und der Verzweigung Birrfeld gehört. Die etwas angerostete und durchhängende Brücke aus den 1970er-Jahren, nicht eben ein Meisterstück hinsichtlich Dauerhaftigkeit, wird durch eine Zwillingsbrücke ersetzt. Die neue, Möriken zugewandte Halb-Brücke (Brücke Nord) ist im Bau. Die Betonpfeiler sind fertig, und in diesen Tagen werden die schweren Eisenträger montiert, auf welche die Fahrbahn zu liegen kommt. Im schwankenden Korb oben am Teleskoparm einer Hebebühne versuchte ein Arbeiter, einen Querträger (eine sogenannte Traverse) zwischen die langen Stahlträger zu montieren. Er schlug mit einem schweren Eisenhammer auf das Eisenstück ein, das sich aber als zu lang erwies; vielleicht hatte die Sonnenwärme die langen Metallteile etwas ausdehnen lassen. Mit einem Kran wurde die Traverse dann hinunter auf den Talgrund geholt, wo Arbeiter mit Messbändern nach einem kürzeren Verbindungsträger suchten. Sonst gibt es für das thermische Trennen von Metallen ja Schneidbrenner, die das zu trennende Material auf die meist über 1000 °C liegende Zündtemperatur erhitzen und so gefügig machen.
 
Inzwischen war ich mit 2 interessierten Beobachtern ins Gespräch gekommen, einem gross gewachsenen, stattlichen, ehemaligen Maschineningenieur mit Erfahrungen in der Lastwagen-Produktion („Berna“, Olten) und im Kraftwerkbau, und dann gesellte sich noch ein pensionierter Mechaniker mit Sturzhelm dazu, der mit dem Velo von Möriken her angefahren war. Sie dachten angesichts der riesigen Krananlagen an die Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg zurück. Damals kam das teilmechanische Metallschutzgasschweissen (MSG) erst auf; die Schweisstechnik zur unlösbaren Verbindung von Eisenbauteilen entwickelte viele Arten, wobei das Schmelzschweissen die bekannteste ist.
 
Vorher sei das Nieten die übliche Methode gewesen, um Metallverbindungen herzustellen, selbst wenn diese wasserdicht sein mussten (wie bei der „Titanic“) oder höchsten Beanspruchungen ausgesetzt waren (wie im Flugzeugbau). Beim Verbinden von grossen Eisenstücken konnten die Nieten eine stattliche Grösse annehmen. Bevor sie mit schwerem Hämmern sozusagen von Hand oder mechanisch durch hydraulische Pressen in die vorbereiteten Löcher getrieben wurden, erhitzte man die Nieten (Metallbolzen) oft zuerst im Schmiedefeuer bis zur Weissglut, wodurch sie eine gewisse Elastizität erhielten und beim Abkühlen die Werkstücke verspannten. Die Arbeiter hörten am Klang, ob eine Niete festsass; tat sie dies nicht, musste sie wieder herausgetrieben und durch eine andere ersetzt werden.
 
Bei modernen Flugzeugen ist die Niettechnik noch nicht verschwunden, wahrscheinlich auch deshalb, weil solche Bauteilverbindungen besser zu kontrollieren sind oder aber wenn das Schweissen materialbedingt unmöglich ist. Beim Othmarsinger Viadukt waren keine Nieten mehr auszumachen; sondern die eisernen Werkstücke werden mit der Schweisstechnik verbunden. Und wenn man den Bauarbeitern zusah, erkannte man sehr wohl, dass es sich bei ihnen um keine Nieten handelte.
 
Das aufs Mittelhochdeutsche zurückgehende Wort Niet(e) bezeichnet einen breit geschlagenen Nagel. Doch wenn man einen Menschen als Niete abqualifiziert, bezieht man sich auf ein Wort aus dem niederländischen Lotteriewiesen, wo niet eigentlich ein Nichts bedeutet, also ein Los, das kein Treffer ist, das nichts einbringt. Die Niete ist ein Reinfall, eine menschliche Niete ein Versager.
 
Besonders eindrücklich ist der Raupenkran „CC 2500-1“ der Toggenburger Unternehmungen aus Winterthur auf der Baustelle in Othmarsingen, der mit einer Hubkraft von 500 Tonnen bei 9 m Ausladung glänzt und mit seiner Höhe von 154 m die alte und neue Brücke um rund 120 m überragt und dessen Hauptausleger-Oberteil in diesen Tagen infolgedessen auch von der A1 und der Eisenbahn aus zu sehen ist. Die aufgefächerten, im Zickzack verstrebten Stangen des Krans treffen sich hinter der Führerkabine, und in Reihen angeordnete, senkrecht auf- und abstrebende Seile enden bei Bergen aus tonnenschweren, aufgestapelten Gegengewichten, damit die gleichzeitig filigran wirkende und doch gigantische Kran-Konstruktion auch bei schwerster Belastung im Gleichgewicht bleibt.
 
Dieser Gittermastraupenkran war bei meinem Besuch eben dabei, die eigene Fahrbahn für die 11 m langen Raupen zu verlängern. Mit Hilfe von 2 Bauarbeitern hob er dicke Holzbretter vor sich her. Man spürte, dass seine Kräfte und Leistungsfähigkeit total unterfordert waren. Das maximale Lastmoment beträgt 6140 metrische Tonnen, der grösstmögliche Lastradius liegt bei 146 Metern.
 
Der Kran ist mit allen möglichen elektronischen Sicherungen ausgestattet, so dass eigentlich nichts passieren kann, wenn nur seine Fahrbahn genügend stabil ist. Der in Gedanken versunkene Maschineningenieur, der das Schauspiel bewunderte, dachte an Tragkräfte und an verpönte S-Haken, weil sie früher bei Überforderung manchmal geradegebogen wurden und die Last losliessen. Als er selber einmal einen S-Haken geschmiedet habe, sei er von Chef angefahren worden: „Willst Du mich ins Gefängnis bringen?“ Zum Aufhängen von leichtem Material wie Fleischstücken in der Metzgerei sind sie aber durchaus angebracht.
 
So kam ich unverhofft zu einem Kapitel Werkstoffwissenschaft mit spezieller Berücksichtigung der Metallkunde, und ich hoffe, dass ich alles richtig verstanden habe. Ich durchwanderte den bestehenden Bahndamm im Tunnel, in dem eine alte, invalide Frau ihren Rollator vor sich her schob – die Metallkonstruktion eines Gehwagens mit Rädern, eine bescheidene, weniger spektakuläre Metallanwendung. Nach dem Tunnel bog ich nach links ab und stieg über einen steilen Weg und eine Treppe hinauf zum Bahnhof Othmarsingen, wo eine Eisenbahn auf Eisenschienen vorbeiraste. Wie wären wir dran, wenn es nie zur frühgeschichtlichen Eisenzeit gekommen wäre?
 
Hinweis auf weitere Blogs über die neue Brücke Othmarsingen
 
Die offizielle Webseite
eine gute Übersicht über die Viadukt-Baustelle aufgeschaltet.
 
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst