Textatelier
BLOG vom: 23.05.2012

Horizont erweiternde Wanderung über den Altberg SZ

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Alp heisst der Voralpenfluss, den ich von Reisen Richtung Einsiedeln kenne. Die Bahn folgt ihm durch seine Schlucht. Kurz nach Biberbrugg zeigt sich linksseitig auf dem Grat ein Haus, das mich seit Jahren zu grüssen scheint. Ein schöner Baum, vielleicht eine alte Linde, steht neben ihm. Beide machten mich neugierig, immer wieder. Wie sieht es dort oben jenseitig aus?
 
Meine Fragen sind nun beantwortet. Am vergangenen Sonntag wanderten Primo und ich ab Biberbrugg über einen stotzigen Wiesenpfad und anschliessend auf einem steilen, aber weichen Fussweg durch den Wald nach oben. Von Biberbrugg (838 m ü. M.) nach Altberg auf 950 m ü. M. benötigten wir ungefähr 20 Minuten.
 
Grosses Erstaunen, als wir an einer prächtigen Scheune vorbei in die Weite des Naturschutzgebiets und Hochmoors heraustraten. Eine Offenbarung. Dieser Rundblick. So weit das Auge reicht. Wunderschön die Farben auf den Feldern, gelb und grün einander durchdringend. Da von Löwenzahn dominiert, dort von den feingliedrigen Ankeblüemli (Scharfer Hahnenfuss).
 
Ich weiss nicht, wie oft ich an diesem frühen Nachmittag stille stand und dieser Landschaft sagte, sie sei schön. Wunderschön. Mitbeteiligt an diesem natürlichen Gesamtkunstwerk sind Bäume verschiedener Art. Da locker verstreut, dort zu einem Wäldchen gruppiert. Ihren Platz dürften sie selbst gefunden haben. Und die Ankeblüemli erinnerten an Spiele in der Kindheit auf dem Land. Wir hielten sie einander vor den Hals, und wenn das Gelb auf der Haut aufleuchtete, war es ein gutes Omen. Was dieses Orakel wirklich beantworten musste, weiss ich nicht mehr.
 
Auf unserem Weg kamen wir an einigen Häusern vorbei. Bauernhäuser oder Wohnhäuser der alten Art, wie ich eines vom Tal her wahrgenommen hatte. Hier oben aber konnte ich es nicht mit Sicherheit erkennen.
 
Wir folgten auch weiterhin dem gelb beschilderten Wanderweg über die Krete Richtung Galgenkappeli, immer den frisch verschneiten Alpenkranz vor Augen.
 
Weiter auf unserer Wanderung sah ich schon von weitem eine grosse, leicht abfallende Fläche mit sich bewegendem Weiss und vermutete, dass es sich um ein Wollgrasfeld handle. Da muss es Wasser haben, dachte ich, und entdeckte es sogleich. Ein so grosses Feld dieser Alpenblume hatten wir noch nie gesehen. Da standen wir denn auch bezaubert davor. Es wehte eine leichte, angenehme Bise, und ich bemerkte, wie diese Berührung ganz unterschiedliche Reaktion hervorrief. Auf jeden Fall liessen sich die Stengel dieses Wollgrases nicht nur in eine Richtung drängen. Wir standen lange vor ihnen und entdeckten eine grosse Individualität. Je nach Kraft und Grösse zitterten sie ob dem Wind, schwankten hin und her oder zogen leichte Kreise. Ihre Schwünge erinnerten mich an die Schnüerlischrift in der Primarschule (zusammenhängende Schrift, wie wenn ihr eine Schnur als Grundlage gedient hätte.)
 
So reagieren auch Menschen. Wir werden von Ereignissen, die alle betreffen, ganz unterschiedlich bewegt und reagieren mit individuellen Ausschlägen, wie es uns das Wollgras zeigte. Einige zitterten, wieder andere schienen gleichmütig oder unberührt dazustehen.
 
Zu Hause holte ich dann das 1946 erschienene SILVA-Buch* „Bergblumen der Heimat“ hervor und las dort: „Das vierjährige Wollgras gehört zu den arktisch-alpinen Pflanzen, die in den Moorgebieten rund um den Nordpol ausgedehnte Bestände bilden, aber auch bei uns von der Ebene bis in die Alpen häufig auftreten. Wie oft stösst man auf sommerlichen Wanderungen beim Erklimmen einer Hochfläche unvermutet auf kleine Moränenseen, die wie leuchtende Augen in der Landschaft liegen, oder auf unansehnliche verlandete Tümpel, die noch vom Schmelzwasser sprärlicher Lawinenreste zu zehren scheinen. In der Nähe besehen, lösen sich aber die vermeintlichen Schneereste in Tausende von weissschimmernden Haarschöpfchen auf. Es sind die Fruchtstände des vieljährigen Wollgrases. Am eindrücklichsten wirken sie, wenn ein frisches Morgenlüftchen die Bodennebel in Bewegung setzt. Dann flattern die Wollschöpfchen wie silberne Perücken im Winde, und ein Sonntagskind würde auch die Liliputanerhexen entdecken, deren Köpfe sie zieren. Nach einer längeren Regenperiode freilich sind die verwaschenen Haare zerzaust oder verklebt, wie etwa der Haarschopf eines gesunden Jungen, der im Wasser herumtollte.“
 
Wenn ich in Bücher wie das erwähnte SILVA-Buch eintauche, dann weiss ich jedesmal, dass meine Generation durch solche Beschreibungen die Ehrfurcht vor dem Leben eingeimpft bekam. Auch die zu jeder besprochenen Pflanzenart gehörenden Aquarelle strahlen entsprechend aus. Worte, Erklärungen und Bilder sind beseelt. Es sind nicht nur kühle und tabellenartige Informationen. Dank dieser Erziehung fällt es leicht, allem Gewachsenen als einem Lebewesen zu begegnen.
 
Freude empfanden wir an diesem Tag auch, als sich auf dem weiteren Weg die Landschaft plötzlich änderte und wieder öffnete. Wir landeten auf einer Art Balkon. Vor uns glitzerte das weite Wasser des Sihlsees. Und da waren wir auch beim Galgenchappeli angekommen. Ein Chappeli ist eine kleine Wegkapelle. Diese da, die wir vorfanden, entspricht vom Äusseren her eher einem Verschlag. Viereckig, vorne offen, also einem Unterstand und hat doch eine Aura, eine Ausstrahlung, dass ihr mit Respekt begegnet wird. (Im Internet ist unter Einsiedeln Tourismus Pilgerweg Galgenchappeli eine Foto zu finden.)
 
Wir setzten uns auf einen der Bänke, die den Wänden entlang angebracht sind und zum Verweilen einladen. Ich las von 2 Informationstafeln:
 
Dieses Galgenchappeli, genannte Gruobi und Schutzhütte, erinnert an das Einsiedler Hochgericht, das bis zum Jahre 1799 hier jenseits der Strasse lag und an das 1810 abgebrochene Kapellchen. Wanderer, gedenke der armen Sünder, die hier endeten. R.I.P. (Sie mögen ruhen in Frieden.)
 
Und:
 
Wanderer, gedenke auch der „drei Kälin“ Nicolaus Benedikt des Lochbauer, Josef Rupert und Johann Nico dem Cölestin, die am 15. bzw. am 16.Dezember 1766 auf der Waidhuob zu Schwyz für die Unabhängigkeit der Waldleute unter dem Schwerte des Henkers starben und deren Köpfe hier aufgenagelt wurden. R.I.P. (Sie mögen ruhen in Frieden.)
 
In der Mitte des Raums steht ein eindrücklicher Steinsäulenstumpf, ursprünglich floral gestaltet, mit Ranken und Blattwerk versehen. Jetzt verwittert und beschädigt. Vermutlich war diese Säule das Zentrum, an dem gerichtet wurde.
 
In der Zeit unserer Rast begegneten wir 4 Personen, die mit schweren Rucksäcken unterwegs waren. Wir fragten, ob sie noch einen weiten Weg vor sich hätten. Heute nur bis Einsiedeln. Sie kamen aus der Steiermark, seien auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela unterwegs. Sie wollen auch den Heimweg wieder zu Fuss gehen und rechnen damit, dass sie im nächsten Jahr dann zurück seien.
 
Solche Begegnungen, auch wenn sie nur kurz sind, bewegen. Die guten Wünsche, die man in solchen Momenten ausspricht, sind stark und kommen von Herzen. Gleich nach ihnen kamen weitere Pilger vorbei. Wieder grüssten wir einander. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: In diesem Augenblick beneidete ich sie. Ein solcher Weg verwandelt alle, die ihn gehen.
 
Wir zogen dann auch weiter, der alten Etzelstrasse entlang. Und ebenfalls zum Kloster. Nach einem Gruss bei der Madonna kehrten wir aber mit der S-Bahn wieder heim.
 
Buchhinweis
*Bergblumen der Heimat, Herausgeber SILVA-Bilderdienst Zürich
Text: Prof. Dr. Hans Meierhofer, Zürich
Aquarelle: H. und O. Baumberger, Zürich
 
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