Textatelier
BLOG vom: 15.07.2012

Wie es Tegernauern gelang, die Stammtischkultur zu retten

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Ein Stammtisch muss nicht immer rund sein. Die normale Rechteckform tut’s auch. Er kann dann beliebig lang sein, jedenfalls soweit als dies der Raum zulässt. Doch muss die Breite relativ klein sein, damit sich die Gäste beim Zuprosten, Palavern und Diskutieren nahekommen, Aug’ in Auge, Schluck um Schluck. Diese menschliche Nähe erhöht das Zusammengehörigkeitsgefühl, verbessert die familiäre Stimmung.
 
Ich habe das bei einer Besichtigung des Wirtshausmuseums Krone in Tegernau im Südschwarzwald D vom ehemaligen Landarzt Hans Jürgen Viardot gelernt, eine im Kleinen Wiesental überall bekannte Persönlichkeit. Er wurde am 31.10.1938 in dieser Gemeinde geboren und hat Lokalgeschichte geschrieben: Als Rettungsarzt wurde er zu einem festen und wesentlichen Bestandteil im Herzen des Kleinen Wiesentals. Und irgendwie scheint ihm das Retten auch im kulturellen Sektor im Blut zu liegen. So bemüht er sich seit 1998 mit einer Gruppe von zupackenden „Aktivisten“ um die Erhaltung des ehemaligen Gasthauses zur Krone, nachdem die letzte Kronenwirtin, Luise Kallfass, die „Kallfass-Luis“, wie sie genannt wurde und die am Schluss 2 Brillen auf der Nase gehabt haben soll, am 27.02.1997 im Alter von 86 Jahren friedlich für immer eingeschlafen war. Ihr Lebenswerk, für Wärme und Behaglichkeit zu sorgen, war vollbracht.
 
Wenigstens ihr Refugium sollte der Nachwelt erhalten bleiben, nachdem im Tal der Kleinen Wiese, wo es einst 86 Gasthäuser gab, etwa die Hälfte davon verschwunden ist. Zu diesem edlen Zwecke wurde am 16.05.1998 der Verein zur Erhaltung des „Gasthauses zur Krone“ in Tegernau e. V. gegründet. Und zwar sollte das ausrangierte Gasthaus eine neue Funktion als Wirtshausmuseum erhalten. Seither haben handwerklich talentierte Mannen aus der Gegend über 35 000 Arbeitsstunden aufgewendet, um das stattliche Haus mit dem Satteldach und dem zum Teil mit 36,5 Gramm strahlendem Blattgold überzogene Wirtshausschild mit der leuchtenden Krone zu konservieren und dem neuen Zweck dienstbar zu machen. Denn ein Gasthaus muss ja schliesslich von Leben erfüllt sein. Das gilt genauso für ein Wirtshausmuseum. Was würde der Fest-, Theater- und Tanzsaal mit dem knarrenden Holzboden nützen, wenn darin nur alte Fotos von den ehemaligen Gasthäusern aufgehängt wären, so wertvoll diese Übersicht auch sein mag?
 
Nach den Ausführungen des Museumsbetreuers Viardot versammelten sich früher nach der Devise „ecclesia et taberna“ (Kirche und Wirtshaus) die Gasthäuser gern rund um die Kirche; es waren gewissermassen Geschwister. So gruppierten sich um die 1113 erstmals urkundlich erwähnte und einst bedeutende Tegernauer Laurentiuskirche neben der alten „Krone“ auch die Gastwirtschaften „Maien“, „Löwen“ und „Hirschen“; die Gebäudegruppe bildete so etwas wie ein Zentrum des Beisammenseins, insgesamt ein Treffpunkt für die Dorfbevölkerung. Hatte man seine sonntägliche Religionspflicht erfüllt und zur Kenntnis genommen, wie der Pfarrer seinen naturreinen Messwein aus einem goldenen Becher genüsslich geschlürft und damit unwillkürlich zur Nachahmung angespornt hatte, traf man sich in einer Taverne, um dem pfarrherrlichen Vorbild zu folgen und in angeheiterter Stimmung über Gott und die Welt zu reden sowie dem Wein oder einem Bier zuzusprechen.
 
Das Wirtshaus mag für viele Menschen ein Heim-Ersatz gewesen sein, etwa nach dem Kirchgang oder nach dem vollbrachten Tagewerk. Bei der Besichtigung der restaurierten Tegernauer Krone, in der möglichst vieles im Urzustand belassen wurde, kam ich zur Überzeugung, dass hier die Behaglichkeit prägnant mitwirkte. Ein zarter Parfümduft nach dem Rauch von Holzfeuern, die in mehreren blauen Öfen Wärme produzierten und es gelegentlich noch immer tun, liegt noch heute in der Gaststube. Eine blau gekachelte Ofenanlage mit „Chunst“ (Kunst = Ofenbank), Backofen und Walzenofen aus dem 19. Jahrhundert macht den Raum zu einer Stube: zu einem warmen Wohnraum (das Wort „Stube“ ist verwandt mit dem englischen Stove = Ofen). Das sind Wärmequalitäten, wie sie sich in modernen durchisolierten und zwangsbelüfteten Wohnbauten nicht mehr einstellen können. Es geht bei der Wohnlichkeit schliesslich nicht nur um die in Celsiusgraden zu messende Temperatur, sondern auch um die Warmherzigkeit, um eine Art von Herzenswärme.
 
Hans Viardot hat sein Herz bei der noch immer andauernden Restauration auf dem rechten Fleck. Die vom Rauch stammende, alte Patina an der Diele sei für ihn gewissermassen heilig – für ihren Erhalt setze er sich ein, sagte er; so etwas bringe man nicht mehr zuwege. Und ich erkannte, dass die behördliche Vertreibung der Raucher aus den Stammbeizen schon eine Portion Lebensqualität in Schutt und (fehlende) Asche gelegt hat.
 
Trotz Bedenken im Zeichen des Brandschutzes konnte das lange Ofenrohr gerettet werden, das nach dem bullernden Ofen praktisch einen ganzen Raum durchzieht und Strahlungswärme unverzüglich an die Gäste verteilte. Die Wandtapeten sind zwar erneuert, zeigen aber das frühere grosse Blumenmuster.
 
Die Küche ist modernisiert, wobei die weissen, quadratischen Wandplättli die gleiche Dimension haben wie sie früher üblich war. In einem Abfalleimer lagen viele leere Champagnerflaschen, die an eine Trauung erinnerten, welche wenige Tage vor unserem Besuch hier stattgefunden hatte. Das einladende Haus wird also erwiesenermassen benützt, und es erstaunte mich nicht, dass jüngere Leute, die gerade zufällig mit einem Sportwagen auf der Durchfahrt waren, hier einkehren wollten.
 
Einmal im Monat wird ein heimatgeschichtlicher, kunsthistorischer oder literarischen „Krone-Frühschoppen“ veranstaltet, bei dem jeweils die Heimatkenntnis und -liebe genährt werden, und an Mittwochabenden findet man sich ab 18 Uhr zu einem Stammtisch zusammen. Die Themen gehen den Veranstaltern nicht aus, wird doch im Jahr 2013 Tegernau seinen 900. Geburtstag feiern. Ein kleines Glasfläschchen mit Lorbeer und Weihrauch als alte keltische Symbole, das Hans Viardot in einem alten Boden der Krone fand, ermöglichte die Altersbestimmung; es war sozusagen der Ersatz für die erste urkundliche Erwähnung mit Antiquitätenwert: das älteste Schwarzwälder Glas im süddeutschen Raum.
 
Unser Gewährsmann Viardot, ein wanderndes Lokalgeschichtsbuch, konnte uns trotz seines in die Vergangenheit reichenden Wissens nicht sagen, ob seine verwandtschaftlichen Wurzeln bis zu Pauline Viardot-Garcia (1821−1910) reichen, die eine in Deutschland, Italien und Russland gefeierte Sängerin sowie vielseitige Künstlerin war und eine enge Beziehung zum russischen Dichter Iwan Turgenjew unterhielt. Die Beziehung zur Kultur im weitesten Sinne ist jedenfalls auch ihrem Namensvetter im Kleinen Wiesental zu eigen.
 
Unser wissenschaftlicher Mitblogger Heinz Scholz aus dem nahen Schopfheim hatte für mich diese Begegnung freundlicherweise organisiert; er hat das Haus bereits am 25.09.2010 treffend beschrieben (siehe Hinweise), so dass ich mich auf ein paar kurze Eindrücke beschränken konnte.
 
Die gehobene „Sennhütte“
Tegernau mit den Ortsteilen Niedertegernau und Schwand mit dem Weiler Käppeli liegt an verkehrsmässig günstiger Lage. Denn hier treffen sich die Landstrassen von Schopfheim, Neuenweg, Badenweiler und Zell im Wiesental. Die Gemeinde zählt rund 400 Einwohner.
 
Weil Schwand dazu gehört, wie gesagt, liegt auch der Gasthof Sennhütte der Familie Grether auf den Gemarkungen dieser Gemeinde – und zwar in erhöhter Lage und entsprechend weiter Aussicht zu den Schwarzwald-Bergen, in die Vogesen und zu den Schweizer Alpen. Bei meinen Exkursionen auf der Schweiz-nahen Nordseite des Rheins staune ich immer wieder, wie viele Landgasthöfe es dort gibt, die währschafte, sorgfältig zubereitete Speisen in uriger Atmosphäre zu bescheidenen Preisen anbieten.
 
Ein Winter- und Aussengarten, Holzbalkone und eine verwinkelte, mit Lukarnen versehene Dachlandschaft, die den Eindruck von Behäbigkeit und einer lebendigen Baugeschichte vermitteln, sind die ersten Eindrücke, die man beim Parkieren auf dem grossen Autoabstellplatz von der „Sennhütte“ erhält. Der Name „Hütte“ (kleiner, bescheidener, zweckgerichteter Bretterverschlag) ist eine glatte Untertreibung. Viele CH-Schilder an den Autos belegen, dass es sich lohnt, hierhin zu fahren und sich auch an der hügeligen Landschaft aus Wiesen, Dörfern und Wäldern zu erfreuen.
 
Heinz Scholz hatte bei der Reservation den besten Tisch erhalten. Die Bedienung war einfühlsam, aufmerksam, persönlich, angenehm. Ich ass als Vorspeise die ersten Pfifferlinge (Eierschwämmchen) dieser Saison, die im waldreichen Südschwarzwald mit den vielen Wäldern aus Nadel- und Laubbäumen mit den oberflächlich versauerten Böden bei dem feuchten Wetter der vorangegangenen Tage beste Wachstumsbedingungen fanden. Dazu wurden kleine Nudeln serviert, und wir tranken einen betont trockenen, gehaltvollen Gutedel, der halbe Liter für 7 Euro. Als Hauptgang kam mir die geschnetzelte, zu einer braunen Balsamicosauce servierte Kalbsleber gerade recht. Perfekt. Die Schwandener Rösti aber war für meinen Geschmack etwas zu wenig gesalzen und hätte eine längere Zeit des Bratens verdient gehabt. Aber vielleicht hat man hier eine andere Vorstellung von einer Rösti als in der Schweiz; wir backen den Kartoffelfladen stärker aus, damit sein Innenleben nicht zu feucht, nicht pappig ist. Heinz tat sich an einer knusprigen Forelle gütlich.
 
Clemens Fabrizio und die Ansichtskarten
Der 09.07.2012 war für einen Ausflug in den Schwarzwald ideal. Die gewölbte Landschaft und der strahlend blaue Himmel wurden durch scharf abgegrenzte, schneeweisse Cumuluswolken angereichert – eine zusätzliche Hügellandschaft wie nach einem Schneefall.
 
Bei der Rückfahrt nach Schopfheim musste ich an der Hegne Strasse in einem Aussenquartier anhalten, denn Heinz hatte den 91-jährigen Clemens Fabrizio entdeckt. Der Mann hat nichts Greisenhaftes an sich und behandelte mich mit meinen 75 Jahren wie einen Jüngling – so ein Alter sei schon gar nichts, stellte er väterlich fest. Fabrizio hat eine kräftige Statur, und man spürt, dass ihn nicht so schnell etwas aus dem Geleise wirft. Er kam am 18.04.1921 im elsässischen Mülhausen zur Welt, ist der Sohn eines italienischen Emigranten aus den Abruzzen, und er wohnt seit über 80 Jahren in Deutschland. Sein Gesicht hat eine auffallende Ähnlichkeit mit jenem von Johann Peter Hebel, vielleicht ein Zeichen dafür, dass er allemannisiert wurde ... Er hat sein von Krieg und Sport geprägtes Leben im Buch „Zwischen zwei Stühlen“ beschrieben, das aus Anlass seines 90. Geburtstags 2011 erschienen ist und als Geschenk von Heinz einen Bestandteil meiner Bibliothek bildet.
 
Clemens Fabrizio ist zudem ein leidenschaftlicher Sammler und sprach uns auf seine aus etwa 1600 Einheiten bestehende Postkartensammlung an. Unter diesen historischen Ansichtskarten befinden sich zahlreiche Karten mit Schweizer Motiven, die nach Kantonen geordnet sind. Er möchte diese hochwertige Sammlung als Gesamtpaket verkaufen, tat er uns gegenüber kund, und er fragte mich, ob ich einen Interessenten kenne. Dafür hat man ja heute das Internet ... und auch die Post. Die Adresse für Interessenten: Clemens Fabrizio, Hegne Strasse 10. D-79650 Schopfheim. Telefon: (+49) 76 221 044. E-Mail: clemens.fabrizio@arcor.de.
 
Im Buch des Sammlers liest man, es vergehe „kein Tag, an dem ich mich nicht eine Zeitlang mit irgendeinem meiner viel zu vielen Hobbys beschäftige, mit Münzen, mit Ansichtskarten, mit alten Briefen, mit Briefmarken oder mit meinen Liederbüchern und neuerdings habe ich mich mit dem Computer befreundet und habe mit 88 Jahren mein erstes E-Mail selbständig verschickt. (...) Jeden neuen Tag betrachte ich als ein besonderes Geschenk des Schicksals.“
 
Soweit das Zitat. Mein eigenes Schicksal, Resultat von Planung und Zufall, hatte mir ebenfalls zu einem erfüllten Tag verholfen, weit über den Stammtisch hinaus. Mein Lob und Dank richtet sich an alle Mitwirkenden, die mich mit Geduld ins deutsche Denken und Fühlen begleitet haben und mir ihre sympathische Wesensart zuteilwerden liessen.
 
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