Textatelier
BLOG vom: 10.03.2013

Natascha und Claude: Keimen und Blühen der Liebe

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Es gibt spannendere Geschichten als diese,
 die eine gemächliche und beruhigende Gangart
 – ein Andantino – verfolgt, fernab aller Hektik.
 EB
 
***
 
Claude hatte Zahnschmerzen und war genötigt, den Zahnarzt aufzusuchen. Er war erstaunt, dass ihn diesmal eine junge Zahnärztin empfing, die sich als Natascha vorstellte. Sie hatte einen schlanken Hals, bemerkte er, und schwarzes Jahr unter ihrer Haube. Ihr sonnenbrauner Teint war mit jenem einer Inderin vergleichbar. „Bitte spülen“, wies sie ihn bald einmal an. Claude wollte sich schon erheben, als sie ihn ermahnte: „Ich bin noch lange nicht mit Ihnen fertig.“
 
„Das freut mich“, sagte er. Sie schmunzelte. Claude setzte sich zurecht, damit sie den Bohrer wieder ansetzen konnte. Insgesamt verpasste sie ihm 3 Plomben.
 
Beim Empfang können Sie den nächsten Termin buchen“, sagte sie und besann sich: „Noch einen Augenblick, ich zeige Ihnen die Röntgenaufnahmen auf dem Bildschirm.“ Ihr Zeigefinger deutete auf einen Zahn: „Diesen hier muss ich durch einen Stiftzahn ersetzen.“ Er sah ein, dass er in Zukunft seine Zähne besser pflegen sollte. Er beschloss, ihre Ermahnung zu beherzigen. Er bemerkte, dass sie keine Ringe trug, wie es die Hygienevorschrift erforderte.
 
Claude war wohl der einzige Mensch weit und breit, der sich auf den nächsten Besuch beim Zahnarzt freute. Natascha hatte es ihm angetan. Pünktlich erschien er in der Praxis. „Claude, die Reihe ist an Ihnen“, holte sie ihn beim Empfang ab, und er folgte ihr durch den langen Korridor. Sie war fast gleich gross wie er und schritt ihm mit sacht schwingenden Hüften voran.
 
„Machen Sie es sich bequem“, wies sie gegen die Halbliege.
 
„Noch so gerne“, sagte er.
 
Natascha hob die Brauen: „Meinen Sie das im Ernst?“, fragte sie. Claude bejahte: „Ganz bestimmt!“ Das war das 2. Schmunzeln, das er ihr ablockte.
 
„Da Sie etwas schmerzempfindlich sind, gebe ich ihnen eine Spritze, wiewohl es auch ohne ginge.“ Dagegen erhob er keinen Einspruch.
 
2 Wochen später erfuhr er, dass an diesem Mittwoch die Behandlung abgeschlossen werde. „Das ist jammerschade“, entfuhr es ihm spontan.
 
„Das kann doch nicht wahr sein … habe ich richtig gehört? Sie sind wirklich ein merkwürdiger Patient.“
 
„Das hat seinen guten Grund“, erwiderte Claude, „denn ich möchte Sie fürs Leben gern wiedersehen – vorausgesetzt, dass Sie nicht anderweitig verpflichtet sind.“
 
„Anderweitig verpflichtet …?" wiederholte sie erstaunt. Nach einer Pause, gestand sie scheu und verhalten: „Eigentlich nicht.“
 
„Heisst das hoffentlich ‚Ja’?“ Sein Herz pochte. Claude verliess die Praxis im Freudentaumel. Genau in einer Woche würde er sie nach Praxisschluss treffen.
*
Erwartungsvoll stand er beim Ausgang der Praxis. Der anbrechende Abend war feucht und kalt. Der Frühling liess auf sich warten. Natascha erschien und trug eine weisse Pelzmütze und war von einem dunkelblauen Mantel und einem langen, weinroten Pashmina umwickelt.
 
Er kenne ein gutes thailändisches Restaurant, etwa 5 Minuten von hier entfernt, schlug er vor. „Noch so gerne“, mimte sie ihn. Vorsorglich hatte er einen Ecktisch reserviert. Die Konversation kam ins Rollen. Den Namen „Natascha“ verdankte sie ihrem Grossvater, der aus Russland stammte und seiner Frau in Kalkutta begegnet war; damit stillte sie seine Neugier. Ihr Vater hatte Medizin in Deutschland studiert, ehe er in Kalkutta zuletzt seine eigene Klinik einrichtete. Dank eines Börsengewinns konnte sie ihr Studium in England absolvieren, und sie lebt seit 8 Jahren in London. „Genau wie ich!“ hatte Claude die 1. Gemeinsamkeit mit ihr entdeckt. „Und wir wohnen erst noch im gleichen Stadtteil“, stellte er erfreut fest.
 
Ein Rosenverkäufer machte seine Runde. Claude winkte ihn herbei, und überreichte Natascha die Rose mit dem Wunsch, dass es ihm so gut ergehen möge wie dem Rosenkavalier. Und Natascha wusste sofort, was er damit meinte. Genau die Aufführung dieser Oper hatte sie vor rund einem halben Jahr genossen. „Quelle surprise, quelle coincidence!“ jubelte Claude. Und sie parierte ihm ihrerseits auf Französisch: „Pourvu que ça dure“
 
Der Abend hätte nicht besser enden können. Claude winkte ein Taxi herbei und setzte sie vor ihrem Haus ab. „Wann darf ich Sie wieder treffen?“ fragte er.
 
„Rufen Sie mich in der Praxis an und hinterlassen Sie mir eine Mitteilung“, schlug sie vor und verschwand, ihm nochmals für den wunderbaren Abend dankend, hinter der Haustüre.
*
Am liebsten hätte sich Claude schon anderntags bei Natascha gemeldet. Doch wolle er sie nicht bedrängen, beschloss er, und liess eine Woche verstreichen. Verschiedentlich in seinem Leben hatte Claude geglaubt, der grossen Liebe begegnet zu sein. Jetzt ahnte er, dass er sie endlich gefunden hatte. In ihrer Gegenwart verspürte er ein Wohlgefühl, das er bisher vermisst hatte. Wie konnte er ihr Herz gewinnen? Diese Frage stellte er sich zum 1. Mal.
 
Am jenem Sonntag, als sie sich zum 2. Mal trafen, schien die Sonne. Da und dort entrollten Sträucher noch zaghaft ihr erstes Blattgrün. Er holte sie bei ihrem Haus ab. Im Vorgarten sonnten sich die gelben Blüten des Goldregens – ein verlässlicher Bote des Vorfrühlings. Sollten sie die Edouard-Manet-Ausstellung besuchen oder im „Kew Gardens“ spazieren und die Treibhäuser exotischer Pflanzen besichtigen? „Ein bisschen Natur könnte uns gut tun“, traf sie die Wahl ganz nach seinem Geschmack.
 
Im Treibhaus stiegen sie die Metalltreppe bis zur Baumhöhe hoch. Ein vom Geländer abgesicherter Gehsteig erleichterte ihnen den Rundgang. Immer wieder hielten sie inne und bewunderten die Wedeln der hochstrebenden Palmen. „Jetzt sind die Kakteen an der Reihe“, sagte Claude, „sie sind meine Favoriten.“ Bei der Treppe legte er seinen Arm um ihre Hüfte, aber zog ihn sofort wieder zurück. „Ich wollte dir bloss vorgehen …“, fügte er hastig hinzu. Unterdrückte sie ein Schmunzeln? Sie hätte sich ihm gewiss nicht entzogen.
 
„Was hat dich veranlasst, nach London umzusiedeln?“ fragte er sie beiläufig.
 
„Meine Familie ist sehr liberal und ganz und gar nicht in eine Religion eingekerkert“, gestand sie ihm. „Ausserdem ist unsere Lebensweise mehr westlich als östlich ausgerichtet. Viele Familien, mit denen wir verkehrten, dachten, ich würde eine ideale Braut abgeben und wurden in unserem Haus in diesem Sinne vorstellig. Sie witterten alle eine generöse Mitgift für ihre Söhne, so wie es in Indien Brauch ist. Das passte mir ganz und gar nicht, und ich wollte diesem Kuhhandel entkommen." Sie zögerte und sagte ausweichend: „Das genügt wenigsten für heute. Es kommen noch andere Gründe hinzu …“.
 
„Ich bin froh, dass Du als Lockvogel entrinnen konntest“, meinte Claude, merklich erleichtert, was ihr nicht entging. Kurzum, sie unterhielten sich gut an jenem Tag. War damit der Grundstein zur Liebe gelegt?
*
Wie unterscheiden sich Claude und Natascha voneinander? Im Gegensatz zu Claude war Natascha bedächtiger und geduldiger. Das schuf Ausgleich zwischen ihnen. Ein verschmitzter Sinn für Humor war Natascha eigen und flackerte im Gespräch immer wieder pfiffig durch. Claude war oft Gemütsschwankungen ausgesetzt.
 
„Meine ältere Schwester wird auf ihrem Rückflug nach Amerika einige Tage in London verbringen. Sie ist eine wunderbare Köchin und wird uns eine indische Mahlzeit auf den Tisch zaubern, zu der Du herzlich eingeladen bist. Einverstanden?“
 
Das war das 1. Mal, dass sie ihn in ihrer Wohnung empfing. Die Titel der Bücher in den Regalen fesselten ihn augenblicklich. „Du bist wirklich sehr belesen“, wandte er sich an Natascha, „und erst noch mehrsprachig.“
 
Es klingelte. „Das ist Zinaida“, sprang Natascha zur Türe, und die Schwestern umgarnten einander stürmisch. „Hast Du die Zutaten fürs Essen besorgt?“ wollte Zinaida sofort wissen. „Und da ist er, Dein Rosenkavalier“, drehte sich Zinaida nach ihm um und beäugte ihn kritisch, ehe sie ihm die Hand reichte. „Rasch setzte eine Pfanne mit Wasser auf den Herd für den Basmati-Reis.“ Claude dachte, dass dieser Befehl ihm galt. Hurtig versperrte sie ihm den Zugang zur Küche: „Damit ist meine liebe Schwester gemeint.“
 
„Habe ich die Feuertaufe bestanden?“ flüsterte er Natascha ins Ohr. Sie beruhigte Claude mit einem Kuss, denn so weit war ihre Liebe schon gediehen.
 
„Magst du den Curry scharf?“ fragte ihn Zinaida. „Vindaloo“ antwortete er.
 
„Nach der westlichen oder indischen Definition?“ Vorsorglich entschied sich Claude zugunsten der westlichen Geschmacksnote.
 
Zinaida, erfuhr er, ist eine Gynäkologin, in einem Bostoner Spital tätig und ebenfalls mit einem Arzt verheiratet. „Das haben mir die Eltern für dich mitgegeben“, reichte ihr Zinaida 2 Pakete. „Noch nicht auspacken“, warnte sie, „denn es könnte der „Kamasutra“ sein.
 
Claude sah Natascha an, dass ihr dieser Hinweis auf den „Kamasutra“ ganz und gar nicht behagte. „Habe ich etwas Dummes gesagt?“, überbrückte Zinaida etwas betroffen die Gesprächspause. Natascha zuckte die Schultern, und das Thema war für sie abgetan. „Morgen beschlagnahme ich Natascha zu einem Einkaufsbummel, so sie meinen „faux pas“ verzeiht."
 
Kurz vor Mitternacht verliessen Claude und Zinaida das Haus. „Sie hat wohl meinen Hinweis auf den ,Kamasutra’ missverstanden“, bemerkte sie. „Aber ich will nicht mehr ausplappern, ausser, dass meine Schwester eine schlechte Erfahrung hinter sich hat, damals in Kalkutta, die ihr noch immer aufliegt und sie gegen Männer aufgewiegelt hat. Aber sage ihr nichts von dem, was ich Dir anvertraut habe. Es liegt an ihr, ob sie mit Dir darüber zu sprechen wünsche oder nicht.“
*
Junge Paare lassen sich heute wenig Zeit, um die Liebe zu hegen und zu pflegen. Liebe ist für sie ein altmodischer Begriff geworden, von gemeinsamen Interessen materieller Art ersetzt. Und wechseln diese Interessen im Wandel der Zeit, kommt manche Ehe in Schwierigkeiten. Schroffe Gegensätze tun sich auf. Das grosse Gähnen macht sich zwischen dem Paar breit. Der Gesprächsstoff versiegt. Das Paar lebt aneinander vorbei. Die Ehe serbelt dahin und stirbt. Vergessen wird, wie leicht man jeden Tag gegenseitig eine Freude abgewinnen kann. Dann ist es zu spät.
 
Die Liebe zwischen Claude und Natascha blühte auf, und sie teilten innig ihre Gefühle und tauschten ihre Gedanken und Ansichten aus. Ihr Glücksgefühl steigerte sich, als sich der Frühling voll und ganz entfaltete. Sie schmieden Pläne für eine Reise im Mai ins romantische Südtirol – Meran, Bozen, Schlanders. Dieser Teil gehört zu Italien, aber die Leute sprechen durchwegs deutsch. Ladinische Sprachinseln (romanische Dialekte) sind eingestreut. Dort sind die Leute fröhlich, geniessen das Leben und zeigten sich Claude und Natascha gegenüber gesprächig aufgeschlossen. Hier seien ihre Wanderungen durch die Natur nicht beschrieben, obschon sie dazu führten, dass Claude sie um ihre Hand bat. Sie kehrten als Verlobte nach England zurück.
 
Ein Besuch bei Nataschas Eltern in Kalkutta war mehr als angebracht. Sie mieden die Turbulenz dieser Stadt und machten Abstecher aufs Land, wo sich die hergebrachte Lebensweise teils noch erhalten hatte. Was gibt es dazu noch zu sagen, was sich nicht von selbst erklärt?
 
 
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