Textatelier
BLOG vom: 15.04.2013

Geschichten rund um eine ambulante Augenoperation

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
In der Rückschau empfinde ich die seriösen Vorbereitungen für Primos Katarakt-Operation wie ein wichtiges Ritual. Wir konnten uns langsam vorbereiten und mit der Augenklinik vertraut machen.
 
Auf Anraten unserer Augenärztin ging ich zur Voruntersuchung mit. Auch ich durfte Fragen äussern. Dann stellten wir uns noch für Studierende eine Stunde lang zur Verfügung.
 
Sie mussten die Probleme in unseren Augen erfassen und eine Diagnose erstellen. Spannend für uns beide, auch wenn uns das Verständnis für die vielen Fachausdrücke fehlte. Diese jungen Leute arbeiteten mit einfachen Instrumenten, gingen behutsam an die Aufgaben heran. Und sie besprachen in ihrer Gruppe das, was sie entdeckt hatten. Einer schwärmte von meinem rechten Auge, wie schön es sei. Es interessierte mich, was er darin sehe, ob das Bild einer Landschaft vergleichbar sei. Nein. Die Farbe und die Adern faszinierten ihn.
 
Ein anderer Schüler hielt die Sehtesttafel hoch. Primo musste die verschieden angeordneten "E" benennen. Der Arzt, mit dem wir die Operation besprochen hatten, schaute zu. Ich sah Fehlinterpretationen und schüttelte den Kopf. Nur leicht, doch wurde es bemerkt. Der Arzt sagte: „Die Frau hat keine Freude, ich aber schon.“ Mir hatten nicht alle Antworten gefallen. Der Arzt aber sah in ihnen seine Diagnose bestätigt, und das freute ihn. Und mir stärkte er mit dem, was er sagte, das Vertrauen in seine Kompetenz.
 
Die Operation ist denn auch entsprechend gut verlaufen. Auf dem Heimweg aus der Klinik erzählte mir Primo, wie sich alles abgespielt hat. Er wünschte keine Vollnarkose, kam damit gut zurecht, war wach und hat mir das, was er mitbekommen hat, schildern können. Entlastet und beschwingt verliess er dieses Haus, in dem die eine alt und trüb gewordene Linse durch ein künstliches Linsenimplantat ersetzt worden war. Wie genau dieser Austausch vollzogen worden ist, bleibt unfassbar. Da war er für nur 2 Minuten voll narkotisiert. Das Wesentliche also konnte nicht mitverfolgt werden. Es bleibt ein Geheimnis, grenzt an ein Wunder, weil wir nicht einmal eine Narbe sehen.
 
Ich fühlte seinen Schwung und seine Freude, als er die Klinik verlassen hatte, und verstand den Wunsch, nicht sofort in ein Tram einzusteigen. Er wollte über die Polyterrasse in die Stadt hinunter gehen. Das ist ein schöner Ort mit Weitsicht über die Altstadt, zum See und Üetliberg hin, auch Richtung Limmattal und bei schönem Wetter in die Alpen. Er hoffte, dort noch Skulpturen zu sehen, hatte von solchen gelesen. Sie waren aber bereits weggeräumt. Da musste ich dann schon augenzwinkernd fragen: Wer braucht denn hier Begleitung? Wer holt wen ab? Von der Klinik wurde nämlich ausdrücklich verlangt, dass der entlassene Patient abgeholt und begleitet werden müsse.
 
Die schöne Aussicht konnte er aber nur halbseitig geniessen. Wenn ich aus Versehen an seiner rechten Seite ging oder stand, konnte er mich nicht sehen. Das operierte Auge war unter einer aufgeklebten Plastikschale gut geschützt, sah gepolstert aus und modellierte das Gesicht neu. Tags darauf wurde dieser Augenschutz, wieder in der Klinik, abgenommen. Das war dann der eindrückliche Moment. Er öffnete die Sicht in neuem, klaren Licht. Primo sprach vor allem von der Weite der Wahrnehmung, die ihn als erstes begeisterte. Noch muss dieser Augenschutz jeden Abend wieder angebracht und über Nacht dort belassen werden.
 
Ich war sehr neugierig, wie ich seine neue Sicht erleben werde und sprach auch mit den Töchtern darüber. Ich fragte mich, ob ich vielleicht speziell putzen müsse. Letizia erinnerte mich sofort an eine Humorgeschichte aus der Schreinerzeitung von einst. Da kam ein Schreiner zum Augenarzt, beklagte sich über seinen müden Blick und dass er keine präzisen Leimfugen mehr herstelle könne. Es war höchste Zeit für eine Brille, die man ihm sofort verschrieb. Als er sie beim Optiker abholte, beeindruckte ihn die klare Sicht und er freute sich. Dann kam er heim und sah seine Frau. Wie alt und verbraucht sie war. Dieser Anblick war unerträglich. Er packte die Brille wieder ein, brachte sie dem Optiker zurück und schimpfte mit ihm. Unbrauchbar! Eine Zumutung! Eine Frechheit, meine Frau so darzustellen.
 
Auch ich konnte meine Sicht erweitern. Das Gebiet des UniversitätsSpitals kannte ich bisher kaum. Ich entdeckte die alte, also ehemalige Eidgenössische Sternwarte in Zürich. Ein schmucker Bau mit Kuppel, der mich sofort anzog. Schrecklich aber die verschiedenen Bauten, die nach und nach an diesen Zürichberg-Hang gebaut worden sind. Vor allem die Materialien empfinde ich teilweise abstossend und lieblos. Wie ganz anders zeigt sich der Nachbarort mit dem Kantonsspital und dem zugehörigen Park. Wir empfanden diese hohen Spitalgebäude nicht nur darum wohltuend, weil Primos Vater als Maurer an ihnen gearbeitet hat. Es sind harmonische Bauten. Wir schauten die Backsteinmauern an und fragten uns, welche von seinen Händen und seiner Kraft mitgestaltet worden sind.
 
Als die Aufrichte am 15. September 1949 gefeiert wurde, bekamen alle Arbeiter, die an diesem Bau beteiligt waren, ein Fazenettli, ein Stoffdruck mit der Darstellung des Gebäudekomplexes samt Park. Solche Tücher, die den Stofftaschentüchern ähnlich sind, benutzten die Bauarbeiter gerne, um den Schweiss abzuwischen. Jenes von Vater Lorenzetti ist brüchig geworden. Wir halten es gleichwohl in Ehren.
 
Primo erinnerte sich noch, dass ein solches Fazenettli in einem Bildrahmen im Erdgeschoss des Kantonsspitals aufgehängt war. Wir suchten nach ihm. Es ist verschwunden.
 
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