Textatelier
BLOG vom: 22.05.2013

Knifflige Grammatik: Dativ oder Genitiv, das ist die Frage!

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Im Deutschunterricht, im Studium der Germanistik und des Fachs „Deutsch als Fremdsprache“ ist die Beschäftigung mit der Grammatik unbeliebt.
 
Ein Student, gebeten, einen Satz mit den Kasus (die lateinische Bezeichnung für den grammatischen „Fall“ bleibt im Plural gleich, die 2. Silbe wird aber lang gesprochen) zu bilden, antwortete: „Genitiv ins Wasser, weil es dativ (da tief) ist.“
 
Es bleibt offen, ob er einen Witz über die und mit den Kasus-Bezeichnungen reissen, sich schlichtweg nicht damit befassen wollte oder keine Ahnung davon hatte.
 
Vielleicht wollte der Fragesteller zu folgendem Problem überleiten: „Von der Häufigkeit der Anwendung aus gesehen, ist die in Deutschland üblicherweise angewendete Reihenfolge umgekehrt, also nicht: ‚Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ’, sondern im Ausland oft ‚Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv’, so dass die Nennung ‚2. Fall’ für den Genitiv für Unverständnis und Verwirrung sorgen kann.“ Damit wird auch etwas darüber ausgesagt, wie wichtig der Genitiv ist, bzw. welchen Stellenwert er für die Lernenden hat.
 
Sie glauben dem Autor Bastian Sick mit seinem Bonmot: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“? Das Buch mit diesem Titel und die weitere Reihe verkaufen sich gut, laut Amazon gibt es „über einer Million verkaufter Exemplare“. Der Titel soll die angeblich um sich greifende Sprachverhunzung anzeigen. Die Überschrift weist auf 4 Seiten des 1. Kapitels hin, provoziert und ist bewusst fehlerhaft. Grammatikalisch richtig müsste es heissen: „Der Dativ ist der Tod des Genitivs“. Oder: „Der Dativ tötet den Genitiv“. Das Kapitel prangert den Sprachgebrauch in einem Schlager mit dem Titel „Wegen dir“ an. Nach Sick müsste es „Deinetwegen“ heissen. Stimmt das?
 
Schon in der Grundschule fragen die Kinder mit „wessen“ nach dem genitivischen Attribut ( z. B. „der Herr des Hauses“). Sie lernen, dass folgende Präpositionen „einen Genitiv erfordern“: „unweit, mittels, kraft, während, laut, vermöge, ungeachtet, innerhalb, ausserhalb, oberhalb, unterhalb, diesseits, jenseits, wegen, statt, anstatt, trotz“. Aber: Ob das zutrifft, kann uns in der Umgangssprache egal sein, die meisten dieser Präpositionen benutzen wir nicht bei alltäglichen Gesprächen.
 
Da finde ich die Website Belles lettres“ = „Deutsch für Dichter und Denker“:Im Hochdeutschen stehen Präpositionen aber grundsätzlich mit dem Dativ, wenn sie auf die Frage ‚wo?’ antworten oder im Akkusativ, wenn sie auf die Frage ‚wohin?’ antworten. Mit dem Genitiv stehen Präpositionen grundsätzlich nicht ... Dativ und Akkusativ sind räumliche Fälle, der Genitiv ist dagegen ein Kasus, der einen abstrakten, grammatikalischen Bezug beschreibt. Er hat also nach Präpositionen nichts zu suchen. ,Wegen’ gehört daher zu den echten Präpositionen. Sie können nur mit dem Dativ oder dem Akkusativ stehen und grundsätzlich nicht mit dem Genitiv. Der korrekte und stilistisch bessere Anschluss an ‚wegen’ ist also der Dativ.“
 
Mit dieser Meinung üben die Autoren an den Büchern von Sebastian Sick heftige Kritik: „Tatsächlich gründet Bastian Sicks Ad-hoc-Theorie, die wir in ihrer Gänze für fundamental falsch und beeindruckend unkundig halten, auf einer Genitivform, die gar keine ist. Da ‚wegen’ zunächst von der Präposition ‚von’ abhängt, steht es im Dativ.“
 
Der Genitiv hat dennoch seine Funktion: „Im modernen Deutsch ist der Genitiv (der Wesfall) in erster Linie ein adnominaler Kasus. Seine Hauptfunktion ist die des Attributs“ (Admoni).
 
Es geht um eine Beifügung, die zum Substantiv (Nomen) tritt:
1. „genitivus possessivus“, als Verhältnis der Zugehörigkeit und des Besitzes zum leitenden Wort: „Annas Hut, Klaras Hand, die Arbeiter der Fabrik, Karls Heimat.“
2. „genitivus subjectivus“ als Nominativergänzung des Verbs: „die Ankunft der Bahn“. Aus „ankommen“ wird „Ankunft“ im Nominativ. (Frage: Wer kommt an?)
3. „genitivus objectivus“, es geht um eine Tätigkeit als Durchführung oder Ergebnis einer Handlung: „die Reparatur der Bahn“ Aus „reparieren“ wird „Reparatur“. (Frage: Was wird repariert?)
4. „genitivus explicationis“ und „genitivus qualitatis“, inhaltlich konkretisiert und qualitativ charakterisiert: „die Art des Lernens“, „das Glück des Wiedersehens“. Diese Dinge können nicht auseinander gerissen werden, es geht um eine Konkretisierung des allgemeineren Begriffs.
 
Der attributive Genitiv hat eine starke Konkurrenz in der Umgangssprache durch den Gebrauch der Präposition „von“. Es klingt nicht so „elegant“, ist aber dennoch häufig in Gebrauch. „Der Hut von Klara“, „die Reparatur von der Bahn“.
 
In der ungepflegten Umgangssprache ist die Konstruktion „der Klara ihr Hut“ und „mein Vater sein Haus“ zu hören.
 
Welche Form würden Sie bevorzugen?
a) „Die Hand des Interpreten schwebte über den Tasten des Klaviers.“
b) „Die Hand von dem Interpreten schwebte über den Tasten vom Klavier.“
c) „Dem Interpreten seine Hand schwebte über das Klavier seine Tasten.“
 
Die Umgangssprache lässt auch weitere Formen des Genitivs verblassen: Das Zahlwort: „zwei der Genossen“ wird zu „zwei von den Genossen“.
 
Das Objekt: „Ich bedarf deiner Hilfe“ wird einfach zu: „Ich brauche dich.“
 
Die adverbiale Bestimmung: „des Morgens“ wird zu „am Morgen.“
 
Bei Adjektiven werden höchstens noch diejenigen im Genitiv verwendet, die eine Quantität ausdrücken: „einige der Studenten“, „viele der Anwesenden“; aber auch hier könnte man „... von den...“ benutzen, was sich ebenso nicht sehr „elegant“ anhört.
 
Von den weiteren Möglichkeiten ist noch das Prädikat zu nennen, das fast ausschliesslich mit dem Hilfsverb „sein“ benutzt wird: „Ich bin der Meinung …“ und „Er ist der Ansicht …“, aber diese Form sollte stilistisch besser ersetzt werden durch: „Ich meine ...“ und „Er sieht das so ...“ In allen Beispielen folgt die Konjunktion „dass“.
 
 
Quellen
Bastian Sick: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“, Köln und Hamburg, 2004.
Wladimir Admoni: „Der deutsche Sprachbau“, Hamburg, 4. Auflage 1982.
 
 
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