Textatelier
BLOG vom: 23.07.2013

Über das Leben, die Musse und Lin Yutangs Weisheiten

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Die Abschnitte des Lebens können so ablaufen:
 
-- Baby- und Kleinkindzeit.
-- Schulzeit.
-- 18 Jahre (bei mir waren es noch 21) Jahre alt: Eintritt in das Erwachsenenalter.
-- Studium und/oder Berufsausbildungszeit.
-- Arbeitsleben.
-- Bei vielen Zeitgenossen: Zeit der Partnersuche, des gemeinsamen Lebens, der Ehe, der Familie und der Kinder.
-- Die Kinder verlassen das gemeinsame Haus, sind aber oft immer noch finanziell abhängig von den Eltern.
-- Die Kinder werden selbstständig, gehen Verbindungen ein.
-- Enkelkinder werden geboren.
-- Das Ende des Arbeitslebens und der Eintritt in das Pensionsalter.
 
Viele Leser unserer Blogs sind hier angekommen, so wie ich auch. Mein erster Schritt aus dem Arbeitsleben war ein Schritt in eine andere Tätigkeit, allerdings verbunden mit der Verwirklichung eines Traums, dem Eintauchen in eine andere Kultur und dem Unterrichten der deutschen Sprache im Ausland, zeitlich begrenzt.
 
Danach: das Erleben einer Zeit ohne die Einteilung des Tages, der Wochen und Monate in Arbeitszeit, Wochenende, Urlaub.
 
Freizeit: freie Zeiteinteilung, kein Wecker am Morgen, (fast) keine Zwänge. Sich dem Hobby zuwenden, im Haushalt mithelfen. Süsses Nichtstun. Lesen, was gefällt. Musik hören. Im Internet surfen. Einfach einen Spaziergang in die Natur machen, den Fotoapparat mitnehmen und Muster von Baumrinden, Blüten, Landschaften fotografieren, mehr Radfahren.
 
Ein Hobby von mehreren: Blog-Schreiben. Sich mit allerlei Themen beschäftigen, das ferne Land, Erlebnisse, Natur, Politik und Gesellschaft, Philosophie. Kurzgeschichten, Kritiken, Darstellungen und Gedichte schreiben. Es erfordert, mit „offenen Augen und offenen Ohren“ zu leben. Intensiver und bewusster leben, über die Dinge nachzudenken, abzuwägen, sich eine Meinung zu bilden. Jetzt ist Zeit dafür, endlich!
 
Und unmerklich pendelt sich der Tagesablauf anders ein: Nicht mehr um 6 Uhr morgens wach werden, aufstehen, frühstücken und dann arbeiten.
 
Plötzlich stelle ich fest, ich werde erst um 7 oder um halb 8 oder sogar erst um 8 Uhr wach.
 
Die Abläufe und Rituale am Morgen dauern länger. Die Frühstückszeit und die Lesezeit der Tageszeitung, verbunden mit dem Lösen des täglichen Kreuzworträtsels, laufen ohne Eile ab, geruhsam.
 
Täglich mache ich neue Entdeckungen. Ich greife ein Buch aus meinem Regal, das ich anders lese als früher, auf ein Ziel hin. Es muss nicht, aber es könnte ein Zitat für einen neuen Text enthalten. Auf jeden Fall eröffnet die Lektüre neue Ideen. Ich versuche mich ein wenig mit der Zubereitung von Gerichten, holperig und das Ergebnis lässt sich zwar meistens essen, aber nicht immer auch geniessen.
 
Der Besuch in der Bibliothek: Die Philosophieecke hat es mir angetan. Ich finde Arbeiten von Schriftstellern, die mir vorher nie untergekommen waren.
 
Ideen für Blogs fallen mir ein. Ich setze mich an den Computer, mache Recherchen im Internet. Der Text nimmt Form an, wird verändert, neu gelesen, korrigiert. Die Meinung meiner Frau ist wichtig; sie findet Fehler, unlogische Gedankengänge.
 
Langeweile? „Totschlagen“ von Zeit? Kein Gedanke daran! Einmal in der Woche ist ein Besuch im Schwimmbad angesagt. Die Fahrt mit dem Rad dorthin, den Hügel hinauf. Eine halbe Stunde Bahnen ziehen in meiner Lieblingsdisziplin, auf dem Rücken. Es müssen nicht mehr 1000 m sein, so wie noch im letzten Jahr, aber kontinuierlich.
 
Abends lesen, Musik hören oder einfach fernsehen. Spannung im Tatort erleben, Ideen haben, wie der Drehbuchautor den Ablauf des Geschehens anders hätte gestalten können. Natur- und Landschaftaufnahmen sehen, ein Konzert hören. Danach: warum nicht noch ein wenig schreiben, jetzt, wo die Einfälle kommen?
 
Ich empfinde Musse. Der Begriff „Müssiggang“ hat einen negativen Ruf, zu rasch fällt einem die Redensart „Müssiggang ist aller Laster Anfang“ ein. Laster? Ich wüsste nicht, welches!
 
Nicht negativ gemeint hat der Schriftsteller Lin Yutang in seinem Buch „Weisheit des lächelnden Lebens“ (Originaltitel: „The importance of living“) das 7.Kapitel „Der Wert des Müssiggangs“. Er schrieb das Buch 1937, als er in seinem 42. Lebensjahr stand. Das ist erstaunlich, denn daraus spricht so viel Lebensweisheit, wie ich sie erst in einem fortgeschrittenen Lebensalter erwartet hätte.
 
Lin Yutang hat viele chinesische Weise und Dichter studiert; er nennt sie „jene grosse Schar origineller Geister“, aber auch viele aus dem Westen, wie Henry David Thoreau, C.G. Jung, Walt Whitman, Herbert Spencer, William James und viele andere.
 
Das Kapitel über den Müssiggang beginnt mit „Der Mensch, das einzige Arbeitstier“, erläutert dann „Die chinesische Theorie von der Musse“ und anschliessend den „Kult des müssigen Lebens.“ Er stellt seine Sicht der amerikanischen Lebensweise dar. Er hat in China und Taiwan gelebt, aber auch längere Zeit in den USA, wie auch in Deutschland und Frankreich.
 
Er schreibt, es gebe 3 grosse amerikanische Fehler: das Funktionieren („Effenciecy“), die Pünktlichkeit und das Streben nach Leistung und Erfolg. „Diese Fehler sind schuld daran, dass die Amerikaner so unglücklich und nervenschwach sind.“ Dem stellt er „die chinesische Lebensweise“ gegenüber. Allerdings sieht er für China eine Entwicklung voraus, die er hinsichtlich der Lebensweise und Lebensauffassung in Frankreich angesiedelt sieht, „weil das chinesische und das französische Temperament einander so verwandt“ seien.
 
Leider weiss ich zu wenig über das Leben im China von heute. Für Lin Yutang gehört die Liebe zum Müssiggang zum Volkscharakter der Chinesen. Nur wer „den Ehrgeiz und die falschen Ansprüche des Lebens und die Verlockungen von Ruhm und Reichtum durchschaut“ und sich von ihnen nicht zum Sklaven machen lasse, habe eine „innige Liebe zum Leben“. Dazu gehöre auch die Einsicht, dass Schicksalsschläge im Leben ihre positiven Seiten haben können. Dazu zitiert er die Parabel vom „Alten Mann auf dem Fort“ des taoistischen Philosophen Liehtse. Aam Ende muss der Sohn nicht in den Krieg ziehen, weil ein Beinbruch einen bleibenden Körperschaden zurückgelassen hatte.
 
Auch seine Gegenüberstellung von Amerika und China hinsichtlich des westlichen Zwangs zum Perfektionismus und dem chinesischen „laissez-faire“ finde ich interessant. Während ein amerikanischer Redakteur sich graue Haare wachsen lasse vor Sorge, auch ja keinen Druckfehler in seiner Publikation zu haben, wünsche der in China den Lesern die „köstliche Genugtuung“, den einen oder anderen entdecken zu können, und „in einer chinesischen Zeitschrift kann es vorkommen, dass man einen Fortsetzungsroman zu drucken anfängt und mitten drin (die Fortsetzung) vergisst“; es habe einfach nichts zu sagen. Weitere Beispiele sind der Drang zu Präzision und Pünktlichkeit, die bei den Amerikanern eben auch dazu führe, dass sie unfähig zum Müssiggang seien. Der Schriftsteller beschreibt eine „prophetische Vision“ eines Traumbilds, in dem sich der amerikanische Erfolgsmensch „der Langsamkeit befleissigt“ und zur „östlichen Landstreichernatur“ wird.
 
Es ist offensichtlich: Der Schriftsteller hat einen Hang zum Hedonismus im positiven Sinne des Worts. Das 9. Kapitel ist mit „Der Genuss des Lebens“ überschrieben und beginnt mit „Vom Im-Bett-Liegen“ als wichtige Kunst, mit einer Körperhaltung, „die am meisten zu Ruhe, Frieden und Betrachtsamkeit hinführt“. Dazu gehört auch das Lauschen des Gesangs der Vögel vor dem Fenster um 5 Uhr morgens. Weiter geht es zum Lob „der Kunst des Sich-Hinlümmelns und Räkelns“ im Unterkapitel „Vom Sitzen auf Stühlen“ bis hin zu Abschnitten, die die Genüsse des Speisens und des Weintrinkens loben.
 
So stosse ich in jedem Kapitel des Buches über 515 Seiten hinweg immer wieder auf Denkweisen, die meine eigenen Lebensnormen in Frage stellen oder auch bestätigen. Es ist eines dieser Bücher, die ich kapitelweise durchlesen habe, aber immer wieder in die Hand nehme und erneut aufschlage, bei dem einen oder anderen Gedankengang verweile und mich frage, wie ich denn selbst darüber denke. Es ist ein Buch, das viele Lebensbereiche umfasst und östliche Lebensweisheiten offenbart, die sich so ganz von unserem westlichen Lebensstil unterscheiden.
 
Und das ist genau das, was mich interessiert: Eintauchen in fremde Kulturen und Denkweisen. Die Frage, worauf es im Leben ankommt, lässt sich vielfältig beantworten.
 
Das Buch endet mit dem Misstrauen der Chinesen gegen die Redensart „logische Notwendigkeit“. Die Gegenkraft sei der Geist der Vernünftigkeit. Für den westlichen Geist genüge es, dass eine Behauptung logisch in Ordnung sei, für den Chinesen müsse sie „mit der Menschennatur in Übereinstimmung sein“, also vernünftig und humanisiert.
 
In den letzten Zeilen des Buchs vor dem umfangreichen Anhang denkt er sich „zum Spass“ Briefe aus, in dem im Hauptteil der logische Mensch spricht und sich in der Nachschrift, im Postscriptum, der vernünftige Mensch, „der echte Menschengeist“, äussert. Ein Mann schreibt seiner Frau den Entschluss, er wolle sich von ihr scheiden lassen und führt eine Reihe logischer Gründe auf, wie, dass sie ihn betrogen habe, und andere. „Der Mann schreibt den Brief zu Ende, und dann begibt sich etwas in seinem Gemüt, und er kritzelt in kaum leserlicher Schrift die Worte hin: ‚Hol mich der Teufel, liebste Sophie, ich bin ja selber auch ein rechter Schweinehund. Werde zum Mittagessen heimkommen und Blumen mitbringen.’“
 
Was über die Grenze des Vernünftigen hinausgehe, werde in China mit „es bewege sich weit von der menschlichen Natur weg“ bezeichnet, damit sei sein Urteil gesprochen. „Bei uns hat man die Weisen nie zu Heiligen und Göttern erhoben, sondern immer nur als Lehrer der Weisheit angesehen, und unsere Götter sind keine Inkarnationen der Vollkommenheit, sondern sie sind käuflich und korrupt und durch Schmeichelei und Bestechung zu gewinnen wie unsere Würdenträger.“
 
Auch wenn uns Westlern diese Gedankengänge befremden, vielleicht sogar abstossen, so können sie doch dazu führen, einander besser zu verstehen, nicht alles nur aus unserer Sicht zu beurteilen. Ich freue mich, dieses Buch entdeckt zu haben, es hat meinen Horizont erweitert. Ich erfreue mich meines Müssiggangs und sehe viele Dinge differenzierter, vielleicht sogar ein wenig vernünftiger, menschlicher.
 
Quelle
Lin Yutang: „Weisheit des lächelnden Lebens“, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main 1955.
 
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