Textatelier
BLOG vom: 03.09.2013

Zeremonien: Traum von der Jungsteinzeit. Das Seelenloch

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Am Tag hatte ich mich mit der Odyssee beschäftigt, dem Epos, das Homer zugeschrieben wird.
 
In der Nacht fiel ich in einen tiefen Traum. Er führte mich zurück in graue Vorzeiten. Immer weiter zurück. Ich fand mich in einer Höhle wieder. Fahles Licht drang durch die Felsenöffnung hinein, vor der ein grosser Stein lag. Der Stein war ein Schutz gegen wilde Tiere. Ich hatte ein Fell am Körper. Es war Hirschhaut. Vor dem Ausgang brannte ein Feuer. Vorsichtig klettere ich hinaus. Die Sonne blendete mich. Ich befand mich auf einem runden Platz. Neben der Felsenhöhle waren 5 Steinbauten, die mit Holzbalken gedeckt waren. Darauf lag Moos. Daneben war ein Feld. Auf diesem wuchs etwas. Es war eine Art Getreide; in den Halmen waren Körner. Auf einer Wiese sah man ein paar Rinder, die dort friedlich grasten. Am nahen Waldrand fand ich einen Bach, aus dem ich mit den Händen Wasser schöpfte. Es war klar und kühl. Nur ein paar Frauen und Kinder gab es zu sehen. Die Eingänge der Hütten waren durch Holzstämme geschützt. Aus einer Hütte drang leises Stöhnen. Die Frauen mussten die Rinder und das Feuer hüten. Die Kinder spielten mit Kieselsteinen, sie versuchten, einen grösseren Stein aus einem Abstand von etwa 2 Rinderlängen zu treffen.
 
Eine grosse dunkle Wolke schob sich vor die Sonne. Die Frauen schauten alle in eine Richtung. Man sah nur einen engen Pfad, der in den Wald führte. Ich folgte dem Pfad. Nachdem ich ein kurzes Stück gelaufen war, sah ich die Männer. Es waren ihrer 4. Sie trugen schwer an einem flachen Stein, den sie dann senkrecht in eine Rille stellten. Die Rille vertiefte ein rechteckiges Stück, das in die Erde gegraben worden war. Es war bereits mit Steinen ausgelegt. Einer der Männer vergrösserte mit einem harten Stein ein Loch in der Mitte eines weiteren Steins. Das Loch war rund. Es war so gross, dass der Mann bereits eine Hand hindurch stecken konnte. Er schabte langsam vor sich hin.
 
Die Männer sahen auf. Sie forderten mich auf, ihnen beim Tragen der Steine zu helfen. Nach einiger Zeit begann es zu regnen. Blitze fegten über den Himmel, und Donner folgten. Die Männer rannten ängstlich zu einem riesigen Baum, dessen Zweige so dicht waren, dass der Regen von ihnen zurückgehalten wurde. Zusammengedrängt warteten sie das Ende des Gewitters ab.
 
In der Dämmerung liefen sie zusammen zu ihren Behausungen. Sie blieben nahe beieinander; aufmerksam horchten sie in den Wald hinein. Die Männer trugen lange, spitze Stöcke in den Händen. An diesem Tag blieb es aber ruhig, kein hungriger Wolf brach durch das Dickicht.
 
Die Frauen hatten Getreidekörner mit Steinen gemahlen und in einem Tonkrug mit Milch vermischt. Sie hatten das Feuer, das im Gewitter ausgegangen war, mühselig wieder anzünden können. Sie buken Fladenbrote auf einem heissen Stein. 2 andere Männer kamen aus dem Wald. Sie hatten ein paar Kaninchen erbeutet. Diesen wurde das Fell abgezogen, die Frauen brieten das Fleisch.
 
Alle redeten durcheinander. Es wurde dunkel. Sie sassen noch eine Weile um das Feuer herum. Dann gingen sie in ihre Hütten, ich in die Höhle im Felsen. Ein Mann musste aufpassen, dass das Feuer nicht wieder ausging.
 
Am nächsten Morgen wurde ich durch lautes Geschrei und Weinen geweckt. Der alte Mann, der in einer der Hütten gelegen hatte, war über Nacht gestorben.
 
Ich wachte auf. Wohin hatte mich mein Traum geführt? Ich hatte mich in der Jungsteinzeit befunden, im Neolithikum, vor 5000 Jahren. Womit waren die Männer beschäftigt? Es war offensichtlich, dass sie dabei waren, ein Grab zu bauen.
 
Niemand weiss, welche Zeremonien die Menschen der Jungsteinzeit nach dem Ableben eines Stammesangehörigen vollzogen haben. Ganz offensichtlich hatten sie aber Vorstellungen von diesem Vorgang. Sie konnten sehen, dass sich der Mensch sich nicht mehr bewegen, keine Nahrung mehr zu sich nehmen, keinen Bogen mehr spannen, nicht mehr sprechen konnte. Aber so richtig glaubten sie nicht daran, dass der Verstorbene tot war. Sie fürchteten sich vor seiner Wiederkehr. Er musste daran gehindert werden, wieder zurück zu kommen. Dafür setzten sie die Leiche in Hockstellung hin und banden sie mit Lianen und dünnen Zweigen zusammen. Dann hackten sie ihr einen Fuss ab. Er solltedrüben bleiben. Deshalb stellten sie ihm sein Essgeschirr mit ins Grab. Sie deckten das Grab mit einem schweren Stein zu. Durch das zirka 50 cm im Durchmesser grosse Loch in dem Stein am schmalen Rand, später von den Archäologen Seelenloch genannt, konnten sie in das Grab hineinsehen.
 
Die neolithischen Bauern hatten sicher eine Erkenntnis vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Aussaat und Ernte, dem Wechsel im Jahreszyklus, vielleicht auch von Paarung und Geburt. Durch das Schlachten wussten sie vom Blut, von der Atmung und vom Herzschlag. Sie mussten sich auch eine Vorstellung davon gemacht haben, dass das sichtbare Ende nicht das endgültige Ende bedeuten könnte. Aber Tote mussten von den Lebenden getrennt werden.
 
Durch das so genannte Seelenloch konnten sie kontrollieren, ob der Verstorbene an seinem Platz blieb. Sie konnten den Verwesungsprozess beobachten.
 
Vom Gedankengut einer Seele konnte zu jener Zeit noch keine Rede sein, auch die Untersuchungen zur vorsokratischen Zeit weisen darauf hin. Viele Vorgänge der bekannten Welt waren den damaligen Menschen nicht verständlich und wurden dem Wirken von Göttern zugeordnet.
 
Aber sie mussten davon überzeugt gewesen sein, durch ihr eigenes Tun etwas bewirken zu können. Nur so können die in ganz Europa gefundenen Gräber und Steine mit dem kreisrunden Loch gewertet werden.
 
Man könnte anhand der Odyssee, die erstmals etwa im 7. Jahrhundert vor unserer Zeit schriftlich festgehalten worden ist, diesem Text von Homer, versuchen, herauszubekommen, was für Vorstellungen in Anfängen bereits in der Jungsteinzeit vorhanden gewesen sein könnten. Das griechische Wort psyché bedeutet auch Hauch und Atem, wird im 11. Gesang, der Odysseus in die Unterwelt führt, sehr vielschichtig. Die Toten durften sich dem Blut der Opfertiere nicht nähern.
 
Die Verstorbenen, die sprachen, wurden in der Übersetzung zwar Seelen genannt, mit Elementen des Geistigen und Moralischen, „sondern dies ist das Los der Menschen, wann sie gestorben,
Denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden,
Sondern die grosse Gewalt der brennenden Flamme verzehret
Alles, sobald der Geist die weissen Gebeine verlassen,
Und die Seele entfliegt wie ein Traum zu den Schatten der Tiefe.“
 
Aber mit Sicherheit verbanden die alten Griechen mit dem Wort nicht die heutige Bedeutung.
 
Zwischen dem Text und der Jungsteinzeit liegen etwa 2000 Jahre. Auch die Leichenverbrennung wurde durchgeführt, und wie Homer aufzeigt, nach Verlassen des Geistes.
 
Es war keine kriegerische Sippe gewesen, die mich in meinem Traum aufgenommen hatte. Vielleicht war mein Geist, meine Psyche, auch nur kurzzeitig in den Körper des alten Mannes geschlüpft, dessen Lebensende gekommen war, wer weiss?
 
Quellen
„Homer’s Odyssee" mit Zeichnungen von Friedrich Preller – Vossische Übersetzung, 3. Auflage, Leipzig 1877.
 
Rinne, Christoph: „Vom Leben mit dem Tod – Ein Graben zwischen Diesseits und Jenseits",Artikel vom 27.06.2000 in: www.jungsteinsite.de
 
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