Textatelier
BLOG vom: 09.01.2014

Irrealis – ein Kapitel Grammatik mit Musik und Poesie

 
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Norddeutschland
 
Der Wahlkampf in Deutschland ist vorbei. Die Wähler haben entschieden. Die SPD hat ihr Wahlziel zwar nicht erreicht, aber zusammen mit der CDU die Regierung gebildet. Das Wahlmotto der SPD war umstritten, es hiess: „Das Wir entscheidet!“ Die Tageszeitung taz hatte entdeckt, dass dieses Motto bereits von einer Zeitarbeitsfirma als Slogan verwendet wurde, bevor sich die SPD-Strategen sich dafür entschieden hatten. Es wäre in der heutigen Zeit mit einer Suchmaschine einfach gewesen, diese Tatsache herauszubekommen. Darauf im Fernsehen angesprochen, antwortete der damalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück dem Moderator flapsig: „Ja, Herr Lorig, hätte, hätte, hätte Fahrradkette ...“
 
Die grammatische Form, die Herr Steinbrück hier andeutet, nennt man Irrealis oder: der Irreal. Es geht um ein Ereignis (d. h. die Recherche) in der Vergangenheit, das nicht mehr erfüllt werden kann. Die „Fahrradkette“ reimt sich auf die Haben-Form. Damit betonte Steinbrück, dass die Parteistrategen das, was passiert ist, nicht mehr rückgängig machen wollen oder können.
 
Eine andere Bezeichnung für Irrealis ist Konjunktiv II, die Möglichkeitsform, die sich vom Konjunktiv I unterscheidet. Denn damit wird die indirekte Rede bezeichnet, bei der eine Äusserung wiedergegeben wird, ohne sie wörtlich zu wiederholen. (Er sagte mit diesen Worten aus, er wolle nicht mehr daran erinnert werden.)
 
Wünsche, die im Gegensatz zur Realität stehen, drückt man mit dem Konjunktiv II nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart aus. Meist wird der Wunsch unterstrichen durch Partikel wie doch, doch nur oder nur, bloss.
 
Wird der irreale Wunsch mit wenn eingeleitet, steht das finite Verb am Schluss.
 
Wird es Ihnen zu theoretisch? Begeben wir uns zur besseren Erläuterung in die Musik! Die Oper „Die Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart ist allgemein bekannt. Sie enthält 2 Arien, in denen irreale Wünsche besungen werden: 
Papageno
Der Vogelfänger bin ich ja,
stets lustig, heissa! hopsassa!
Ich, Vogelfänger, bin bekannt,
bei Alt und Jung im ganzen Land.
Ein Netz für Mädchen möchte ich;
ich fing' sie dutzendweis’ für mich.
Dann sperrte ich sie bei mir ein,
und alle Mädchen wären mein.
 
Wenn alle Mädchen wären mein,
so tauschte ich brav Zucker ein:
Die, welche mir am liebsten wär,
der gäb ich gleich den Zucker her.
Und küsste sie mich zärtlich dann,
wär’ sie mein Weib und ich ihr Mann.
Sie schlief ' an meiner Seite ein,
ich wiegte wie ein Kind sie ein.
 
Tamina
Dies Bildnis ist bezaubernd schön,
Wie noch kein Auge je geseh'n!
Ich fühl' es, ich fühl' es, wie dies Götterbild
Mein Herz mit neuer Regung füllt,
mein Herz mit neuer Regung füllt.
Dies Etwas kann ich zwar nicht nennen!
Doch fühl' ich's hier wie Feuer brennen.
Soll die Empfindung Liebe sein,
die Empfindung Liebe sein?“
Ja, ja! die Liebe ist's allein ‒
O wenn ich sie nur finden könnte!
O wenn sie doch schon vor mir stände!
Ich würde - würde - warm und rein ‒
Was würde ich! ‒
Ich würde sie voll Entzücken
An diesen heissen Busen drücken,
und ewig wäre sie dann mein,
und ewig wäre sie dann mein,
und ewig wäre sie dann mein,
ewig wäre sie dann mein,
ewig wäre sie dann mein. 
Das häufigste Wort ist „wäre“. Die Vergangenheitsform des Konjunktivs II wird vom Plusquamperfekt abgeleitet. „Ich wäre am Sonntag gerne zu deiner Party gekommen.“ „Wenn“, ja, wenn das Wörtchen ,wenn’ nicht ,wär’, ,dann würde’ ..., ,dann hätte’ ...“ Beim Konjunktiv II können durchaus die Gegenwarts- und Vergangenheitsform in einem Satz nebeneinander stehen.
 
In den beiden Arien werden Verbformen benutzt, die heutzutage in der Umgangssprache nicht mehr üblich sind. Die Gegenwartsform im Konjunktiv II wird meistens mit dem Wort „würde“ und der Infinitivform des Verbes gebildet. An einigen Stellen ist sie besonders in der Arie der Tamina so formuliert worden: „Ich würde sie voll Entzücken an meinen heissen Busen drücken.“ Die Satzbaukonstrukte „... wenn ich sie nur finden könnte“ und „...wenn sie doch schon vor mir stände“ sind Bedingungssätze des Typs III und gleichzeitig ebenfalls Irrealis.
 
Es ist diese Art von Verben: „finge, stände, gäbe, schliefe“, also sogenannte starke Verben. Sie verändern ihren Stammvokal beim Konjugieren und werden im allgemeinen Sprachgebrauch leider immer seltener benutzt.
 
Ich meine, zu Unrecht, denn hört sich das nicht elegant an? Die Arien wären nie in das Gedächtnis der Musikliebhaber eingebrannt worden, hätte stattdessen Emanuel Schikaneder, der Librettist des Singspiels, nur die Form mit „würde“ gewählt.
 
Dass der Konjunktiv II bei starken Verben auch im 18. Jahrhundert nicht überall auf Zustimmung fiel, wurde im Dezember 1791 in der Berliner Zeitung (Musikalisches Wochenblatt) deutlich, in der ein Korrespondentenbericht aus Wien, der vom 9. Oktober 1791 stammte, abgedruckt wurde:
 
„Die Zauberflöte, mit Musik von unserm Kapellmeister Mozart, die mit grossen Kosten und vieler Pracht in den Dekorationen gegeben wird, findet den gehofften Beifall nicht, weil der Inhalt und die Sprache des Stücks gar zu schlecht sind.“
 
Jetzt könnte man einwenden, die Sprache der Kunst, die Schriftform und die gesprochene Sprache unterschieden sich bei der Verwendung des Deutschen. Die Schriftform verwendet das Präteritum dort, wo im mündlichen Sprachgebrauch häufig das Perfekt benutzt wird. (Das Kind bekleckerte sich. – Das Kind hat sich bekleckert.) Gleiches gilt für die Verwendung des Genitivs, der im Mündlichen durch die Formulierung mit „von“ vermieden wird (Der Anzug meines Bruders bekam auch Flecken ab. – Der Anzug von meinem Bruder bekam auch Flecken ab.)
 
Ebenso verhält es sich beim Konjunktiv II bei starken Verben, die durch die Verwendung von „würde“ den Infinitiv behalten.
 
Eine kleine Übung soll das verdeutlichen. Übertragen Sie die folgenden Sätze in die Irrealis-Form, ohne „würde“ oder „wäre“ zu benutzen:
 
„Ich habe geträumt, ich wäre auf dem Meer, aber würde nicht schwimmen, sondern mit einem Boot ausfahren. Ich würde die Angel auswerfen. Plötzlich würde ein riesiger Fisch anbeissen. Ich würde so lange ziehen, bis ich ihn fangen und ins Boot bergen würde. Ich würde ihn vom Ufer bis in meine Küche tragen. Zuerst würde ich ihn wiegen und mit meiner Kamera aufnehmen. Dann würde ich ihn ausnehmen usw., in den Ofen schieben und anschliessend backen. Ich würde meine Familie und meine Freunde einladen und wir alle würden ihn essen.“
 
Haben Sie die Lösung? Hier kommt eine kleine Hilfestellung:
anbeissen ‒ biss an; aufnehmen – nähme auf; ausfahren – führe aus; ausnehmen – nähme aus; auswerfen – würfe aus; backen – büke; bergen – bärge, einladen – lüde ein; essen – ässen; fangen – finge; schieben – schöbe; schwimmen – schwämme; tragen – trüge; wiegen – wöge; ziehen – zöge.
 
Für alle, denen nicht jede Form bekannt war, habe ich noch 
Ein Trostlied  (im Konjunktiv von Erich Kästner):
 
Wär ich ein Baum, stünd ich droben am Wald.
Trüg Wolke und Stern in den grünen Haaren.
Wäre mit meinen dreihundert Jahren
noch gar nicht sehr alt.
 
Wildtauben grüben den Kopf untern Flügel.
Kriege ritten und klirrten im Trab
querfeldein und über die Hügel
ins offene Grab.
 
Humpelten Hunger vorüber und Seuche.
Kämen und schmölzen wie Ostern und Schnee.
Läg ein Pärchen versteckt im Gesträuche
und tät sich süss weh.
 
Klängen vom Dorf her die Kirmesgeigen.
Ameisen brächten die Ernte ein.
Hinge ein Toter in meinen Zweigen
und schwänge das Bein.
 
Spränge die Flut und ersäufte die Täler.
Wüchse Vergissmeinnicht zärtlich am Bach.
Alles verginge wie Täuschung und Fehler
und Rauch überm Dach.
 
Wär ich ein Baum, stünd ich droben am Wald.
Trüg Wolke und Stern in den grünen Haaren.
Wäre mit meinen dreihundert Jahren
noch gar nicht sehr al ...
 
Quellen
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Zauberflöte‎
 
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