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BLOG vom: 01.02.2015

Atommüll Schweiz: Abgekürztes AKW-Nünistein-Verfahren

Autor: Heiner Keller, Ökologe, Oberzeihen AG (ANL AG, Aarau)
 
 
Die öffentlich geäusserte Entrüstung der lokalen Politiker ist gross: Mit einer beachtlichen Medienkampagne schlug die Nationale Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) am 30.01.2015 zuhanden der Prüf- und Entscheidungsbehörden vor, nur noch 2 mögliche Standorte für ein geologisches Tiefenlager weiter zu untersuchen. Kaum jemand mit ein wenig eigenem Verstand ist überrascht. Die Nagra hat in ihrer Geschichte seit 1972 schon viele Schwenker gemacht und Milliarden ausgegeben, ohne der Lösung des Problems auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein.
 
Durch Indiskretionen wurde bekannt, dass Nagra-interne Papiere schon 2011 vorsahen, sich künftig auf die Standorte Bözberg und Zürcher Weinland zu konzentrieren. Trotzdem wurde mit Manipulieraufgaben und völlig domestizierten Regionalkonferenzen der Anschein von eifriger Betriebsamkeit und Mitwirkung erweckt. Private Büros (vor allem solche aus dem Sektor Kommunikation) und Amtsstellen (Raumplanung) wurden mit Aufträgen reich versehen. Hunderte von ausgewählten Vertretern aus der Bevölkerung und der Politik liessen sich gegen Bezahlung und die Verpflichtung zum Schweigen in riesige Abklärungen einbinden: Von wo sollen sich die Atommüllbehälter aus Würenlingen AG in den tiefen Opalinuston unter dem Bözberg transportieren lassen?
 
Nach rund 3 Jahre dauernden intensiven Studien und Diskussionen kam Jura Ost, wie der Bözberg auf Nagra-Deutsch neuerdings heisst, zum Schluss, dass der erforderliche Stollen irgendwo in der Gegend von Würenlingen beginnen muss. Auf dieses Ergebnis hätte man mit rund 10 Minuten Überlegen und ein wenig gesundem Menschenverstand auch kommen können. Dieses Vorgehen hätte aber nicht der wohlpropagierten Mitwirkung entsprochen, hätte nicht ermöglicht, einen Bestand am bezahlten Mitverantwortlichen aus der Gegend aufzubauen und wäre viel zu rasch gewesen. Viele der Bewohner der ausgewählten Gegenden ahnen diese künstlich gesteuerten Machenschaften und Vernebelungstaktiken der Nagra. Nagra aus Verantwortung, das glauben schon lange nur noch die Involvierten, Angestellten und die Profiteure. Die aufdringliche Betonung der Überzeugung in die Unfehlbarkeit von selber bezahlten Experten durch die Verantwortlichen der Nagra wirkt künstlich. Die Glaubwürdigkeit hat gewaltig gelitten – und sie wird es weiter tun.
 
Erstaunlicherweise gibt es Fakten und Zusammenhänge, die weder in der Diskussion noch in den staatsmännischen Entrüstungen in Erscheinung treten. Der Kern der Sache bleibt trotz Kommunikation im Dunkeln. Weshalb die Nagra glaubt, den Schleier der Verschwiegenheit immer weiter in die gläserne Zukunft retten zu können, ist mir unverständlich.
 
Die atomaren Abfälle sind vorhanden und nehmen zu. Sie sind gefährlich, weil ihre Strahlung, die nicht verbrauchte Energie, Leben verändern oder auslöschen kann, wenn sie in den Kreislauf der Natur gelangt. Sollte das geschehen, werden je nach Menge und Ausbreitung mehr oder weniger grosse Gebiete des Landes und des Wassers unnutzbar oder unbewohnbar. Diese Tatsachen bestreitet gar niemand. Es ist vielmehr so, dass dort, wo die Rückstände anfallen oder zwischengelagert werden, die Akzeptanz der Bevölkerung am grössten ist. Die reale Gefahr und die unsichere Zukunft werden den aktuellen Verdienstmöglichkeiten und dem günstigen Steuerfuss im Alltag untergeordnet. Kernenergie war und die atomaren Abfälle sind ein Geschäft. In einer Gesellschaft (Politik), die immer weiter wachsen und profitieren will, können wir doch auf die Arbeitsplätze für Lagerung und Tiefenlagerung gar nicht verzichten. Nagra: Wieso redet ihr nie von Geld? Was profitieren die Gemeinden über dem ausgewählten Opalinuston für ihr vermeintliches Opfer?
 
Die Antwort ist sehr einfach: Den Betreibern der Kernenergie ist das Geld ausgegangen. Die Bernischen Kraftwerke AG, die ALPIC und die AXPO jammern und produzieren Verluste. Sie haben sich zu lange auf ihre staatlich gestützten Monopolstellungen kapriziert, sind von der Entwicklung auf dem Strommarkte völlig überrascht worden und haben sich bei den prognostizierten Gewinnen völlig verspekuliert. Vom rauen Wind der Realität abgeschottete Wohlfühlgremien lassen in ihrer Aufmerksamkeit und in ihrer Bereitschaft zum Handeln nach. Niemand kann bestreiten, dass das so ist. Man muss nur die Flut der isolierten Meldungen in den Zusammenhang stellen. Dann sieht man die Entwicklung und die angestrebte Lösung: Der Bund soll helfen, dass der Strombezüger mehr bezahlt (Abgaben) und die Öffentlichkeit soll Risiken übernehmen (z. B. bei einem Unfall mit Atomen).
 
Der Verwaltungsrat der Nagra (www.nagra.ch), der eigentlich gar kein Verwaltungsrat, sondern vielmehr das verantwortliche Gremium einer Genossenschaft ist, setzt sich zusammen aus:
 
Dr. Stephan W. Döhler, Vizepräsiden Axpo Power AG,
Dr. Philipp Hänggi, BKW Energie AG,
Walter Heep, ZWILAG Zwischenlager Würenlingen AG,
Dr. Thomas Kohler, Alpic Suisse SA,
Dr. Andreas Pfeiffer, Kernkraftwerk Leibstadt AG,
Dr. Miacael Plaschy, Kernkraftwerk Gösgen-Däniken AG,
Dr. Thierry Strässle, Paul Scherrer Institut, und
Peter Zbinden, ehemaliger Vorsitzender der Geschäftsleitung Alp Transit Gotthard AG.
 
Der „Verwaltungsrat" wird geleitet von der freisinnigen Aargauer Nationalrätin Corina Eichenberger. Es ist üblich, dass solche Gremien von erfahrenen und gut vernetzten Politikern mit juristischem Wissen geführt werden. Wenn ich annehme, dass der „Verwaltungsrat" das oberste Organ der Nagra ist, und ich sehe, dass fast ausschliesslich die Verantwortlichen für den Atommüll und die Geldgeber der Nagra (aus Verantwortung) das Sagen haben, dann wird vieles klar: Der Zeitplan für das Endlager wird mit Hinweis auf die Komplexität und anderen Kunstgriffen immer weiter in die Zukunft verschoben. Die heutigen Papieraktivitäten, die vielleicht 100 Millionen CHF pro Jahr verschlingen, sind wesentlich kleiner als der Betrag, den das Tiefenlager dereinst kosten wird. Der Opalinuston als Baugrund wird im konkreten Fall noch viele Sorgen (Herausforderungen) bieten. Das geologische Tiefenlager wird Aufträge in einem zweistelligen Milliardenbetrag generieren. Je länger man die Lösung herausschieben kann, desto länger wird Geld „gespart", beziehungsweise werden Ausgaben auf später verschoben.
 
Die heutige Opposition ist im Prinzip unnötig. Die Kernkraftwerkbetreiber haben sowieso kein Geld. Die Opposition hilft eigentlich nur der Nagra ihre heutigen Bemühungen zur angeblichen Sicherheit und Mitwirkung zu rechtfertigen.
 
Was wird in 40 Jahren sein, wenn nach heutigen Zeitplänen der Nagra (die bisher immer nach hinten korrigiert wurden) das Tiefenlager in Betrieb gehen soll? Ist dann der Atommüll immer noch strahlender Abfall mit viel Energie oder ist er bereits wieder ein Wertstoff? Wie viele Einwohner haben dann der Kanton Zürich und der Kanton Aargau? Der Aargauer Regierungsrat jedenfalls möchte in den nächsten paar Jahren 200 000 Einwohner mehr. Schon heute schlucken die Strassen den Verkehr nicht mehr. Die Meldungen zu Staus auf der Autobahn sind ja nicht mehr zu überhören. Und trotz anderslautender Beteuerungen werden die Siedlungen und die Infrastrukturanlagen auch weiter in den „schönen“ Teil des Aargaus hineinwuchern.
 
Die Nagra-Verantwortlichen können noch lange auf Endlager in Finnland oder Schweden hinweisen: Vergleichen sie doch einmal die Siedlungsdichte und die Nähe zum Meer. Die Risiken für einen Unfall mögen ja gleich gering sein. Null sind sie nicht. Und wenn etwas passiert? Mit so blödsinnigen Hinweisen sollte man sofort aufhören, genau wie mit den Studien der Regionalkonferenzen über Auswirkungen eines Tiefenlagers in 40 Jahren. Es wäre gescheiter, wenn einmal jemand erklären würde, weshalb die Nagra alle ihre Aktivitäten aufrecht erhält oder erhöht, wo doch die Standorte reduziert und die zur Verfügung stehende Zeit verlängert werden?
 
Die vorgeschlagene Reduktion der Standorte von 6 auf 2 ist Teil eines abgebrochenen Nünistein-Verfahrens (Mühlespiel). Die Nagra hatte einen Standort (zeitweise den besten) im Züricher Weinland ausgewählt. Der Bözberg war weniger gut geeignet (aus Gründen der Sicherheit) und galt als Reserve. Diese Sicherheitsüberlegungen passten aber dem Kanton Zürich nicht. Das war so nicht kommunizierbar (weil politisch entschieden). Via Bundesrat (zufällig ein Zürcher Bundesrat) öffnete man den Kreis der möglichen Standorte auf 6 (als „Sachplan" vernebelt) und startete die aufwendige Papierübung mit den Regionalkonferenzen. Dass ein Standort Wellenberg (ungeeignet, gegen Volksentscheide, Innerschweiz) ebenso wenig wie ein Standort im dichtest besiedelten Aaretal (mit einem Stolleneingang bei Einkaufszentren) eigentlich gar nicht in Frage kommen kann, war ja damals schon klar. Die übliche Übungsanlage in so einem politisch verzwickten Fall ist aber die Reduktion von 6 auf 3. Mit 3 Standorten hat man wie mit einer Mühle beim Nünistein die grössten Möglichkeiten.
 
Entsprechende Beispiele über politisch motivierte Raumplanungsverfahren mit dem Nünistein-Verfahren finden sich zum Beispiel bei der verunglückten Suche des Kantons Aargau für einen neuen Steinbruch – auf dem Bözberg (www.pro-boezberg.ch). Logischerweise rückt der Bözberg bei vielen grösseren Vorhaben in den Fokus irgendwelcher Sucher: Der Bözberg liegt im Aargau (Wachstum), ist mit in der am dünnsten besiedelten Gegend in der Mitte zwischen Zürich und Basel (hat noch Entwicklungspotential) und hat keine eigene politische Lobby. Weil hier auch noch Opalinuston unter dem Tafeljura vorhanden ist, weil die meisten Kernkraftwerke und das Zwilag in naher Distanz ihren Abfall produzieren und lagern, muss ja der Bözberg geeignet sein – wenn Zürich nicht will.
 
Wegen des fehlenden Gelds der Auftraggeber hat die Nagra halt jetzt das abgekürzte Nünistein-Verfahren gewählt und nicht 3, sondern gleich 4 ungeeignete Standorte ausgeschieden – obwohl angeblich alle die erforderlichen Qualitäten erfüllen würden... Wenn alles rund läuft, muss die Nagra jetzt nur noch „beweisen“, dass der Opalinuston im Bözberg ungefähr gleich viele Nachteile hat wie derjenige des Zürcher Weinlands. Dann nämlich kommen neben der Sicherheit auch die politischen Aspekte für einen entsprechenden Entscheid von Bundesrat, Parlament und eventuell des Volkes als Souverän über die vorhandenen Abfälle zum Tragen. Der Trick mit dem Sachplan, den Standort Tiefenlager von Zürich in den Aargau zu transferieren, hat auf dem Papier grosse Chancen, aufzugehen.
 
Man merkt die Absicht und wird im Moment etwas verstimmt. Aber die Verstimmung lohnt sich gar nicht: Wer weiss, ob es die Nagra in 40 Jahren noch gibt? Auf jeden Fall hat die Nagra noch nie länger als ein paar Jahre an ihren besten, sichersten und verantwortungsvollsten Lösungen festgehalten. Aufgrund der heutigen globalen Veränderungen ist auch nicht anzunehmen, dass die Entwicklung so verläuft, dass sie auf die Pläne der Nagra passt oder sogar auf diese Rücksicht nimmt. Die Nagra steht und fällt mit den atomaren Energieproduzenten. Der Bevölkerung und der Landschaft erhalten bleibt der strahlende Atommüll. Vielleicht wäre es angebracht, wenn sich ausserhalb der Nagra Leute Gedanken über die Zukunft machen würden.
 
Die beiden Baudirektoren, die Herren Regierungsräte Markus Kägi (SVP, Zürich) und Stephan Attiger (FDP, Aargau), entrüsten sich in der Öffentlichkeit über den Vorschlag der Nagra, schwafeln vom einzigen Argument der Sicherheit und versprechen eine intensive Prüfung der 15 000 Seiten der Begründungen. Dabei ist klar: Zürich will politisch nicht und hat die Kraft, dies auch durchzusetzen. Und der Aargau stellt sich in die Opferrolle (wir haben schon viele Sachen für das Gemeinwohl erbracht).
 
Mein Wohnkanton Aargau muss aber letztlich zur Kenntnis nehmen: Atommüll und Tiefenlager passen, wie so vieles, sehr gut in die Wachstumsstrategie des Regierungsrats. Man wehrt sich halt noch ein (teures) bisschen, lässt sich nachher überzeugen von den angeblichen Sicherheiten der Schichten unter dem gefalteten Tafeljura des Bözbergs, fügt sich und nimmt das Geld gern. Letzteres wird dann nicht an die grosse Glocke gehängt.
 
Ich möchte niemandem Unrecht tun: Aber Nünistein ist wirklich ein einfaches Spiel. Für alle Spieler sind die Züge des Gegners sichtbar. Und die beiden Baudirektoren sitzen gemeinsam im Verwaltungsrat der Axpo Holding AG. Von Amtes wegen. Ohne jede Einflussmöglichkeit durch die Bevölkerung der Kantone Zürich und Aargau verfügen diese beiden Wachstumsmotoren der Schweiz über die Mehrheit der Aktien der Axpo (der Rest ist Beilage) und produzieren 40 % des Atomstroms und der radioaktiven Abfälle. Die Axpo betreibt die ältesten Kernkraftwerkanlagen der Schweiz, die guten und allen Sicherheitsanforderungen genügenden Beznau I und Beznau II. Die Betriebsbewilligungen sind zeitlich nicht begrenzt – deshalb eilt es auch nicht. Die Vertretung der Axpo im Verwaltungsrat der Nagra ist gewährleistet und politisch abgesichert – siehe oben.
 
Im nächsten Schritt im Rahmen des vorgeschlagenen Scheinverfahrens verdienen die unabhängigen Experten, die Aufsichtsgremien und die Kommunikationsbüros am Atommüll.
 
 
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