Textatelier
BLOG vom: 03.06.2015

Goethe-Anekdoten: „Da habe ich mich umsonst besoffen“

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
 
„Der Versuch, den um Goethe gruppierten Anekdotenschatz zu sammeln, begründet sich im bunten Wesen der Anekdote. Sie ist eine kurze Erzählung mit einer feinen Spitze, einem farbigen Punkt am Ende; mag dieser nun eine Moral, ein Scherz, ein Witz, ein charakteristischer Zug, eine überraschende Äusserung, eine gelungene Replik sein. Sie bringt eine begrenzte biographische Einzelheit, der ein typischer Zug entnommen werden kann“. So beschreibt der Autor Edwin Zellweker in einem Vorwort sein Buch „Goethe in der Anekdote“. Der Autor, der viele Literaturstellen studiert hat, beschreibt in einem Nachwort, dass der Wunsch nach Vollständigkeit nicht ganz erfüllt werden konnte. Er fügte am Schluss des 224 Seiten umfangreichen Bändchens mit 444 Anekdoten und 20 Scherenschnitten ein umfangreiches Quellenstudium an.
 
Das Anekdotenbuch erstand ich auf dem Endinger Büchermarkt am (siehe Blog vom 25.05.2015: Endinger Büchermarkt: Stöbern vor historischen Kulissen). Eine Anekdote über den Weinliebhaber Johann Wolfgang von Goethe (1749‒1832) erwähnte ich schon in einem Blog vom 21.01.2010 (Berühmte Weinliebhaber (II): 900 l Wein für Goethes Durst). Hier ein Auszug aus dem Zellweker-Buch:
 
Umsonst besoffen
1818 kurte Goethe vom 26. Juli bis 13. September in Karlsbad. Goethes Diener Karl erhielt am 17. August den Auftrag, 2 Flaschen Wein zu besorgen und diese mit Gläsern an den beiden Fenstern seiner Unterkunft aufzustellen. Der getreue Diener tat, wie ihm geheissen war. Bei jedem Rundgang durchs Zimmer trank Goethe den Wein. Nach geraumer Zeit trat Goethes Hausarzt Wilhelm Rehbein, der ihn zur Kur begleitete hatte, ins Zimmer, und Goethe sagte zu ihm: „Ihr seid mir ein schöner Freund! Was für einen Tag haben wir heute und welches Datum?“ Rehbein antwortete: „Der 27. August.“ Der Dichterfürst wollte dies nicht glauben, er war der Meinung, es sei schon der 28. August, sein Geburtstag. Auch der herbeigeklingelte Diener Karl sagte, es sei der 27. August. Als Goethe schliesslich in einem Kalender nachsah und das von den beiden richtig erwähnte Datum bestätigt fand, sagte Goethe: „Donnerwetter! Da habe ich mich ja umsonst besoffen.“
 
Für Goethe war der Wein Grundnahrungs- und Genussmittel, aber auch Medizin. Am 02.02.1785 schrieb er in einem Brief an seine Freundin Charlotte von Stein: „Der gestrige Wein hat wieder seine wohltätigen Wirkungen gezeigt, ich habe sehr gut geschlafen und befinde mich wohl.“
 
Seine Frau, Christiane Vulpius, die er 1806 heiratete, schrieb ihm einmal, er solle doch mehr Wein und Champagner für seine Gesundheit trinken. Sie berichtete in diesem Brief auch, dass 3 Burschen an Scharlach gestorben seien. Wieder andere, die sich unwohl fühlten und dann den „heilsamen“ Wein von ihr zu trinken bekommen hatten, wurden von der Seuche verschont.
 
Goethe äusserte sich auch zum Weingenuss von Friedrich von Schiller: „Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mässig, aber in (…) Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas Likör oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst schädlich.“
 
Goethe und sein Freund Heinrich Meyer liessen es sich gutgehen. Sie waren nach dem Weingenuss in einem wunderbaren Zustand. Als ein durchreisender Verehrer Goethe sprechen wollte, richtete sich der Dichterfürst auf, lehnte sich mit der Hand an eine Wand, um sich aufrecht zu halten und sagte: „Halte mir diesen Menschen ab.“ Meyer ging zur Tür, riss sie auf und rief hinaus: „Exzellenz können Sie nicht sprechen, Exzellenz sein besoffe!“
 
Ein anderes Mal forderte ihn ein Engländer zu einem Wetttrinken auf. Er habe nämlich gehört, dass Goethe als der tüchtigste Zecher von Deutschland gelte. In einer Wirtschaft im Kreise von Freunden wurde nun gezecht. Goethe war in einer Superstimmung, während der Engländer immer ruhiger wurde und dann von seinem Stuhle herabsank. Der alte Goethe (die Geschichte spielte sich in Weimer 1826 ab) wandte sich aufrecht an seine Freunde: „So, meine Herren, nachdem wir diesen guten Mann besorgt haben, können wir doch unser Glas Wein in Ruhe trinken!“
 
Am Rheinfall mit Lavater
Goethe stand am 06.12.1779 mit Johann Caspar Lavater (reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller) am Rheinfall bei Schaffhausen. Goethe behauptete, der Rheinfall sei in Bewegung, während Lavater meinte, er stehe still. Nach einiger Zeit sagte Lavater: „Goethe, du trinkst zuviel Wein, drum scheint´s dir, der Rheinfall sei in Bewegung.“ Darauf erwiderte Goethe: „Und du trinkst zu viel Wasser, drum scheint´s dir, er stehe still.“
 
Verdammungswürdiges Buch
Lord August Bristol, Bischof von Derry, war sehr ungehalten über Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werthers“. Er war der Meinung, dadurch würde er Menschen zum Selbstmord verleiten. „Das ist ein unmoralisches, verdammungswürdiges Buch“, gipfelte er seine Kritik.
 
Goethe sagte, er solle kein Wort mehr weiter äussern. Dann bemerkte er etwas, was zu meiner Lieblingsanekdote wurde: „Sprechen Sie etwa so auch zu den Grossen dieser Welt, die mit einem Federstrich und den Stilübungen ihrer Diplomaten zu Gefallen, Hunderttausende ins Feld schicken, achtzigtausend totschlagen lassen und ihre Untertanen zum Mord, Raub, Notzucht, sogar zum Meuchelmord verleiten? Darüber stimmen Sie ein Tedeum an!“
 
Autogrammsammler
Der Maler Charles Gore war ein leidenschaftlicher Sammler von Autogrammen. Eines Tages kam er auf den Gedanken, doch einmal alle Unterschriften von berühmten Leuten auf einem Blatt zu sammeln. Er ging zunächst zu Johann Gottfried Herder. Dieser schrieb:
 
„Die Erde ist ein Jammertal“.
Dann wandte er sich an Friedrich Schiller. Er las den Spruch und setzte ihn sinngemäss fort:
„Voller Narren und Toren.“
Auch Goethe folgte seinem Wunsch. Er schrieb:
„Wo Sie der allergrösste sind,
Mein lieber Herr von Goren.“
 
Ein siebenfüssiger Hexameter
Dies kann auch einen Dichterfürst passieren. Gymnasiallehrer Heinrich Voss der Jüngere entdeckte in einer von Goethes Elegien einen siebenfüssigen Hexameter. Goethe liess sich die Stelle im mitgebrachten Buch zeigen. „Ja, wahrhaftig“, rief Goethe. Dann reichte ihm Voss einen Bleistift, um den Vers zu verbessern. Goethe gab ihm jedoch zurück mit den Worten: „Weil die Bestie einmal da ist, mag sie ruhig dableiben.“
 
Er wollte andere Nieren
Goethe war mit seinen Nieren nicht so zufrieden. Sie waren wahrscheinlich „desorientiert“. Im Januar 1806 sagte er: „Wenn mir doch der liebe Gott eine von den gesunden Russennieren schenken wollte, die zu Austerlitz gefallen sind!“
 
Ein unmoralisches Buch
Eine Dame beschwerte sich über die „Wahlverwandtschaften“. Das Buch sei unmoralisch; das könne sie nicht billigen. Es wäre keinem Frauenzimmer zu empfehlen. In diesem Roman verlieben sich 2 Paare ‚übers Kreuz’. Goethe hörte ihr eine ganze Weile ernsthaft zu, dann sagte er mit viel Innigkeit: „Das tut mir leid, es ist doch mein bestes Buch!“
 
Beethoven in Karlsbad
Goethe und Ludwig van Beethoven gingen am 08.09.1812 in der Umgebung von Karlsbad spazieren. Immer wieder werden sie von Spaziergängern erkannt und gegrüsst. Über diese Störung verstimmt, sagte Goethe: „Es ist verdriesslich, ich kann mich der Komplimente hier gar nicht erwehren.“
 
Darauf Beethoven: „Machen sich Eure Exzellenz nichts draus, die Komplimente gelten vielleicht mir!“
 
Kommentar zu Kotzebues Ermordung
August von Kotzebue (1761−1819), Dramatiker und Schriftsteller, verspottete den von den Studenten verehrten Turnvater Friedrich Ludwig Jahn und verhöhnte die Ideale der deutschen Nationalversammlung. Am 23.03.1819 wurde Kotzebue vom Jenaer Burschenschaftler und Theologiestudenten Karl Ludwig Sand in Mannheim mit den Worten „Du Verräter des Vaterlandes“ erstochen.
 
Als Goethe von der Ermordung erfuhr, gab er dies von sich: „Ein glücklicher Mensch, der Kotzebue, er wird durch alles berühmt, sogar durch seinen Tod.“
 
Schreibfehler von Goethe?
Im Sommer 1822 wurde während eines Mahls über die vielen Kniffe der deutschen Rechtschreibung diskutiert. „Ich halte sie mir nach Möglichkeit vom Halse“, erklärte Goethe, „und mache, wenn man streng sein will, in jedem Brief Schreibfehler. Und kein Komma!“
 
Die Anwesenden konnten es nicht glauben, was Goethe hier referierte. Dann fuhr Goethe schnell fort: „Dabei beruhige ich mein Gewissen mit der Meinung des verehrten Wielands, der behauptet hat: ‚Religion und Interpunktion sind Privatsachen.’“
 
Verwechslungen einer polnischen Gräfin
In Marienbad wurde auf Wunsch einer polnischen Gräfin Goethe ihr vorgestellt. Die war entzückt, und schwärmte von seinen Tragödien. Die Tragödie „Athalie“ bezeichnete sie als grossartig. Goethe: „Auch ich schwärme für Tragödien. Aber die ‚Ahtalie’ ist von Jean Racine.“
 
Die Gräfin bemerkte darauf, sie habe sich geirrt, sie meinte sein Drama „Don Juan“. Das war aber auch nicht von ihm. Goethe hatte genug von den Verwechslungen und sagte, es sei Zeit für sie, in den Ballsaal zu gehen. Dann entfernte sich Goethe wortlos.
 
Später erzählet die Gräfin: „Goethe, grossartiger Dichter, aber unhöflich!“
 
Schmutz kommt nicht ins Haus
Es trafen sich immer viele Leute im Haus von Goethe. Bei den Gesprächen standen oft Gegenstände der Kunst und Wissenschaft im Vordergrund. Goethe war sehr ungehalten, wenn Klatscherei verbreitet wurde. Bei einer solchen Gelegenheit konnte er sehr derb werden und rief mit nachdrücklicher Stimme: „Euren Schmutz kehrt bei euch zusammen, aber bringt ihn nicht mir ins Haus.“
*
Dies war eine kleine Auswahl von Anekdoten über Goethe. Edwin Zellweker schrieb, Goethe wäre sicherlich erfreut gewesen. Er soll einmal gesagt haben:
 
„Eine Sammlung von Anekdoten ist für den Weltmann der grösste Schatz, wenn er sie an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen weiss.“
 
Für mich sagen Anekdoten mehr über einen Charakter eines Menschen aus als so manche Biographien. Oft sind es persönliche Erfahrungen, humorvolle oder markante Äusserungen meist bekannter Persönlichkeiten. Die eine oder andere Anekdote ist natürlich unbeglaubigt oder etwas verfälscht nacherzählt. Trotzdem sind solche Geschichten für mich sehr erbaulich, und ich hoffe, auch für Sie.
 
 
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