Textatelier
BLOG vom: 14.08.2015

Daniels Werdegang

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London

Daniel wurde als viertes Kind in einer jüdischen Familie geboren. Seine Geschwister waren viel älter als er. Daniel war das vierte und störende Rad innerhalb der Familie und wurde lieblos geduldet. Für die kleinsten Verstösse wurde er gerügt und bestraft. Nach dem Essen musste er das Geschirr abräumen. Mehr und mehr Pflichten wurden ihm aufgebürdet. Daniels Dasein war in den Hintergrund verdrängt. Zum Faktotum degradiert, war er kein Spielgefährte für seine Geschwister. Einem vernachlässigten Kind wie Daniel fehlte lange die Grundlage, zu erkennen, dass andere Kinder ein ungleich besseres Leben haben als er.

Eines Tages fand er im Keller in einer Kiste einen Stoss von Kinderbüchern. Eine neue Welt tat sich ihm auf, dank den buntgefärbten Illustrationen. Das war seine Rettung. Mit diesem Schlüssel entdeckte er nach und nach die Welt ausserhalb seines trostlosen Elternhauses. Anknüpfungspunkte waren geschaffen. Daniels Werdegang war verfolgbar geworden, nach dem zweiten Jahr in der Primarschule.

Achtlos hatte ihn der Klassenlehrer zuerst in die hinterste Bankreihe verbannt. Seine Eltern hatten ihm gesagt, dass Daniel leider schwerfällig sei. “Das ist kein Dummkopf”, folgerte er, als Daniel am Unterricht rege teilnahm und versetzte ihn in eine vordere Reihe. Dabei stellte er fest, dass Daniel gut zeichnen konnte. “Wie kommt es, dass du so gut zeichnen kannst?”, fragte er ihn. “Aus Märchenbüchern”, antwortete Daniel. Am Elternabend lobte er seinen Schüler und zeigte den Eltern einige Zeichnungen ihres Sohnes. “Wir hatten keine Ahnung”, erwiderte die Mutter kopfschüttelnd.

Wie sich die Wunder für Daniel auftaten, so auch nachträglich die Wunden im Rückblick auf seine frühen Kinderjahre. Daniel war nicht nachträglich veranlagt, doch blieb er einsilbig, wenn nicht verschlossen, seinen Eltern und Geschwistern gegenüber. Ihr Lob war zu spät gekommen. Ihre Geschenke waren bedeutungslos. Er verschenkte sie weiter an Freunde und auch an bedürftige Kinder armer Familien, worunter viele Immigranten. Wenn immer möglich, verliess er das Haus und fand Gastfreundschaft im Haus seines besten Freunds Benjamin. Zusammen besuchten sie das Naturwissenschaftliche Museum, ein Interessensbereich, der beide fesselte.

Allein gelassen im häuslichen Garten, hatte sich Daniels Beobachtungsgabe für das Leben der Insekten, Schmetterlinge und Pflanzen verfeinert. Mit dem “Hegi” gewappnet, erforschten und fotografierten sie die alpine Flora und übernachteten in Jugendherbergen. Dank dieser Jugendfreundschaft gewann Daniel den Anschluss in ein lebenswertes Dasein. Darüber liesse sich ein Entwicklungsroman schreiben.

Im Gegensatz zu Benjamin, reizte ihn weibliche Gesellschaft ganz und gar nicht. “Warum erkennst du in ihnen nicht gaukelnde Schmetterlinge?”, flocht Bejamin behutsam ein, “sie wollen Gefallen erwecken und stechen nicht.”

“Das ist kein Thema für mich”, winkte Daniel ab. Nach dem Gymnasium begann Benjamin sein Studium der Kunstgeschichte. Daniels Ziel war die Biologie. Es gelang ihm, ein Stipendium zu gewinnen. Auf das Angebot seines Vaters konnte er verzichten. Glänzend schloss er sein Studium ab und fand einen Posten in einer von ihm bevorzugten Universität, weitab von seiner Heimatstadt, den ihn voll in Beschlag nahm.

Da erreichte ihn die Hiobsbotschaft, dass sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte. “Du darfst weder mich noch deinen Vater so hart beurteilen”, gestand seine Mutter weinend. “Wir beide haben viele Fehler begangen”, gestand sie. Daniel versöhnte sich mit der Familie. Der letzte Druck aus seiner Jugendzeit wich und vertrieb die düster über ihm hängende Wolke, die flockig gelockert einem gaukelnden Schmetterling glich. Daniel hatte seine Reife erreicht. Er ist ein Junggeselle geblieben.

 

 


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