Textatelier
BLOG vom: 02.04.2016

Rechtschreibung ist keine Verpflichtung

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

Die Fähigkeit zur Rechtschreibung wurde von mir immer als Kulturtechnik angesehen, also als ein Konzept, in unterschiedlichen Lebensbereichen Probleme lösen zu können. Kultur hat immer eine soziale Komponente. Ich benötige die Techniken, um in meiner Umwelt agieren und reagieren zu können. Welche Techniken als lebenswichtig angesehen werden, ändert sich in dem Masse, wie sich die Umwelt verändert. Die Kulturtechnik des Feuermachens ist nicht mehr unbedingt notwendig, ich muss auch nicht die Kulturtechnik beherrschen, Ackerbau und Viehzucht betreiben zu können.

Rechtschreibung ist ein Teil der Kulturtechnik, die Leseverstehen, Hörverstehen, Alphabetisierung und Schreiben umfasst.
Die Rechtschreibtechnik setzt sich aus vielen Teilbereichen zusammen: Sprachwissen, kognitive Faktoren, auditive, kinästhetische und visuelle  Wahrnehmung,  Problemlösungsverhalten, Symbolverständnis, Artikulation, rhythmisches Empfinden, motorische Entwicklung, Motivation, Konzentration und Selbstkonzept.“
(Werner Lang, Fachleiter am Studienseminar Kusel, Rheinland-Pfalz)

Die heutige deutsche Rechtschreibung richtet sich nach politischen Entscheidungen, die 2006 beschlossen worden sind.

Daran sollte (muss?) ich mich halten, wenn ich im Unterricht Rechtschreibtechnik vermittele, wenn das Verfassen deutschsprachiger Texte zu meinen Aufgaben gehört, sei es als Beamter, Journalist, Schriftsteller, usw.

Eine besondere Rolle spielt der Adressatenbezug. Rechtschreibung ist ja ‚ein Dienst’ am Leser. Daher dürfte die Schreibung von ‚privaten Texten’ eher einer persönlichen Orthografie folgen; bei Texten, die sich an fremde Leser orientieren, wird man der normierten Rechtschreibung folgen (müssen). Da der grösste Teil der verfassten Texte (ca. 75%) für den betriebsinternen Gebrauch bestimmt ist und sich an bekannte Leser richtet, ist eine korrekte Rechtschreibung weniger zwingend. Dies wird von Meistern (im Ausbildungsbetrieb) auch so gesehen: ‚Wenn man versteht, was einem der Auszubildende mitteilen will, ist es (die Rechtschreibung) kein allzu grosses Problem.’“
(Elisabeth Schlemmer, Herbert Gerstberger, Hrsg., Ausbildungsfähigkeit im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis, Springer Verlag 2008)

Interessant ist die Aussage, Rechtschreibung sei ein Dienst am Leser. Bei einem Besuch in die Innenstadt meines Wohnortes stiess ich auf folgenden Text, der an zwei mit Rollläden versehenen Schaufenstern eines ehemals als Kiosk dienenden kleinen Ladens angebracht war:

 


Foto: R.G.Bernardy
 

Ich war nie in diesem Kiosk, als es noch geöffnet hatte. Deshalb weiss ich auch nicht, wie gross die Innenräume sind. Es kann nicht nur ein kleiner Raum sein, wenn der Vermieter diese Vorschläge zur Nutzung macht. Die Lage für einen Kiosk war schwierig: in einer Nebenstrasse gelegen, aber in der Nähe eines Supermarktes, der inzwischen werktags von 7 bis 20 Uhr geöffnet hat und unmittelbar neben einem Platz, der 2x in der Woche als Marktplatz genutzt wird, sind die Chancen, Getränke, Süss- und Tabakwaren zu verkaufen, nicht sehr hoch. Da ist zwar das Theater gleich um die Ecke, aber vermutlich waren die Besucher selten auch Kunden im Kiosk. Das wird der Grund dafür sein, dass eine weitere Nutzung als Kiosk gar nicht erst in Betracht gezogen wird.

Der Vermieter hat seinen eben erwähnten „Dienst am Leser“ nicht in der Rechtschreibung gesehen, sondern in den Vorschlägen, wie denn der Raum zu nutzen sei. Ich bin mir nicht sicher, aber vermutlich kann ich davon ausgehen, dass der Verfasser dieser Zeilen kein Deutscher ist. Es fehlt an Sprachwissen, visueller Wahrnehmung und Artikulation.

Ein Muttersprachler hört den Unterschied zwischen „Bäkerei“ und „Bäckerei“. Bei „Massage“ bin ich mir nicht sicher, denn das Wort wurde aus dem Französischen Anfang des 19. Jahrhunderts entlehnt und ist ein Fremdwort, bei der die Aussprache und Schreibweise nicht jedem Deutschen geläufig ist. Vielleicht kennt der Schreiber das englische Wort „baker“ und hat daraus auf den deutschen Begriff geschlossen. Wohingegen auch ein Muttersprachler, der unsicher in der Rechtschreibung ist, durchaus von der Aussprache des Wortes „Pflege“ her das „p“ vergessen kann, da es nicht artikuliert wird.

Jemand mit einer guten Schulbildung erkennt die Fehler, wenn er den Text sieht, er hat die Wortbilder visuell gespeichert und die fehlerhafte Schreibweise offenbart sich ihm sofort.

Er könnte sofort „die Nase rümpfen“ und den Schreiber der Zeilen in seinem Selbstverständnis „abwertend einschätzen“.

Das ist aber ein überhebliches Verhalten. Denn das Ziel des Verfassers ist klar erkennbar, seine Vorschläge lassen keine andere Interpretation zu. Rechtschreibung ist für die kognitive Wahrnehmung des Inhalts nicht erforderlich.

Der Verfasser ist nicht verpflichtet, sich den politischen Entscheidungen, die die Schreibweise vorschreibt, zu beugen. Er hat alles getan, um sein Anliegen darzustellen!

Rechtschreibunterricht oder Richtig schreiben lernen?

 


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