Textatelier
BLOG vom: 22.05.2016

Der Euro Song Contest 2016 und die Politik

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

 
„Ein bisschen Frieden“, so war der Siegertitel des Euro Song Contests (ESC) 1982. Es blieb ein frommer und naiver Wunsch, der weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart verwirklicht ist und es vermutlich niemals sein wird. War es damals ein Wunsch, der von den meisten Zuschauern mitgetragen wurde (ob von den Machthabern auch würde ich nicht unbedingt behaupten), so war der Schlager des diesjährigen ESC schon vom Titel „1944“ her umstritten.
 
Wir erinnern uns: 1944 war der II. Weltkrieg in vollem Gange. Kaum ein Mensch war davon nicht berührt, und es wurde überall gekämpft, also getötet, unterdrückt, gemordet, vertrieben, gefoltert, ge- und verhungert, und viele waren davon betroffen, ob sie in den Krieg involviert waren oder nicht, mehr in so kurzer Zeit als in all den vorhergegangenen Kriegen; und das waren gewiss nicht wenige. Daran soll der Song der Sängerin Jamala  (Dschamala) erinnern, die sich dem Volk der „Krimtataren“ zugehörig fühlt.
 
“When strangers are coming...  
They come to your house,          
They kill you all                          
and say,                                      
We’re not guilty                          
not guilty.                                   

Where is your mind?                  
Humanity cries.                            
You think you are gods.            

But everyone dies.                    
Don't swallow my soul.            
Our souls                                  

Yaşlığıma toyalmadım
Men bu yerde yaşalmadım
Yaşlığıma toyalmadım
Men bu yerde yaşalmadım

We could build a future            
Where people are free               
to live and love.                          
The happiest time.                     

Where is your heart?                 
Humanity rise.                          
You think you are gods             
But everyone dies.                      
Don't swallow my soul.            
Our souls.                                  ‘

Yaşlığıma toyalmadım
Men bu yerde yaşalmadım
Yaşlığıma toyalmadım
Men bu yerde yaşalmadım”

Music and Lyrics by: Jamala

Wenn Fremde kommen ...
Kommen sie zu eurem Haus
Sie töten euch alle
Und sagen
Wir tragen keine Schuld
Keine Schuld
 
Wo ist euer Verstand?
Die Menschlichkeit weint
Ihr denkt, ihr seid Götter
Aber jeder stirbt
Verschluckt meine Seele nicht
Unsere Seelen
 
Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen,
Weil ihr mir mein Land wegnahmt
Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen,
Weil ihr mir mein Land wegnahmt
 
Wir könnten eine Zukunft erschaffen
Wo die Menschen frei sind
Zu leben und zu lieben
Die glücklichste Zeit
 
Wo ist euer Herz?
Menschlichkeit, erhebe dich
Ihr denkt, ihr seid Götter
Aber jeder stirbt
Verschlucke meine Seele nicht
Unsere Seelen
 
Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen,
Weil ihr mir mein Land wegnahmt
Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen,
Weil ihr mir mein Land wegnahmt
 
Ich konnte mein Vaterland nicht haben.”
 
Der Text zeigt Grausamkeiten auf, wie sie überall verübt wurden, aber der Titel weist auf historische Gegebenheiten hin. Mit dem Text will die Sängerin an ihre Familiengeschichte erinnern. Die Krimtataren, also die Tataren auf der Halbinsel Krim, waren bestrebt, eine territoriale Unabhängigkeit zu erreichen, im 18. Jahrhundert vom Osmanischen Reich, nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland auch von der Sowjetunion. Die Deutschen, vor allem General Ludendorff, im I. Weltkrieg, wollten einen deutschen Kolonialstaat auf der Krim. Als Stalin an die Macht kam, wurden alle Bestrebungen der Krimtataren brutal unterdrückt.
Im II. Weltkrieg sah die politische Führung der Krimtataren in Hitlerdeutschland eine Hoffnung auf Erfüllung ihrer Wünsche:
„Während ihre Deportation im Jahr 1944 die öffentliche Wahrnehmung beherrscht, gerät ihre NS-Kollaboration, die der Deportation vorausging, in den Hintergrund. Wie Historiker konstatieren, stand 1942 ‚jeder zehnte Tatar auf der Krim unter Waffen’ - an der Seite des NS-Reichs. Krimtataren kämpften mit der Wehrmacht gegen die Sowjetunion, taten sich in der berüchtigten ‚Partisanenbekämpfung’ hervor und lieferten jüdische Nachbarn den NS-Schergen aus. Schon in den 1920er Jahren hatten führende Tataren-Funktionäre anlässlich einer Moskauer Siedlungsmassnahme zugunsten jüdischer Familien eine ‚Verjudung’ ihrer Wohngebiete beklagt. Exil-Krimtataren stellten sich später, im Kalten Krieg, für Destabilisierungsbemühungen des Westens gegen Moskau zur Verfügung. In jener Tradition steht der Medschlis, der unter den Krimtataren selbst heute durchaus umstritten ist.“
(So die Interpretation der historischen Ereignisse durch die russlandfreundliche www.German-Foreign-Policy.com )

Zurück zum ESC 2016:
Eine Kommentarmeinung, auf der Website www.meta.tagesschau.de
gepostet:
„Am 15. Mai 2016 um 06:23 von Bernd39:
Schade!  -   Diese einstmals schöne Veranstaltung verkommt immer mehr zur politischen Farce. Mit der Trennung der Voten selten deutlich zu sehen.
’Russlands Entertainer hatte offenbar nichts gegen eine Atmosphäre auszurichten, die Russland als ESC-Sieger nicht wollte.’
So selbst J. Feddersen von eurovision.de. (wohlgemerkt bei den Jurys, NICHT beim europäischen Publikum. Oder hätte jemand erwartet, dass Russland vom deutschen Publikum 12 Punkte bekommt?)
Kann man nur ‚hoffen’, was gar nicht so unwahrscheinlich ist, dass 2017 erstmalig ein Veranstalter aus politischen Gründen den Teilnehmern eines anderen Landes die Einreise verweigert. Dann ist der ESC, selbst verschuldet, wirklich am Ende.“


Ob die Abstimmung chancengerecht verlaufen ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hat der Titelgewinn der Ukraine Wellen geschlagen, besonders auch in Russland. Von dort kommen offene Vorwürfe der Manipulation, da der Beitrag ihres Landes anfänglich als Favorit gehandelt worden war.
 
Es wird sogar befürchtet,
„der Sieg beim ESC könne die prowestliche Führung der Ukraine ermutigen und den ohnehin stockenden Friedensprozess im Osten der Ukraine weiter in Mitleidenschaft ziehen.“, so der Vorsitzende des Aussenausschusses im Russischen Oberhaus, Konstantin Kotschatschew.
 
Jetzt einmal ganz ehrlich: Es war eine internationale Show mit (leicht vergänglicher) Schlagermusik! In meinen Augen gab es keinen Sieger und keine Besiegten. Jeder Künstler und jede Künstlerin, ob „on stage“ oder im Hintergrund, hat versucht, das beste Können zu präsentieren. Ob jetzt „eine Mehrheit“ der an der Abstimmung Beteiligten mit ihren Voten Recht hat oder nicht, ist völlig unbedeutend, weil Geschmacksache.
 
Aber wo es um Nationalitäten geht, geht es wohl nicht mehr ohne “nationalistische Gefühle“ und Politik, wie auch klar im Sport, besonders hinsichtlich von Dopingvorwürfen und anderem, ersichtlich ist.
 
Ich meine: Die wahre Grösse wäre es, „über den Dingen zu stehen“, also ausserhalb der Kategorien „Sieger und Besiegte“.
Das wäre dann „ein bisschen Frieden“.
 
Quellen:
https://www.eurovision.de/teilnehmer/Songtext-Jamala-1944,lyrics192.html
http://lyricstranslate.com/de/1944-1944.html-5#ixzz48xAVyP5m
www.german-Foreign-policy.com
www.meta.tagesschau.de
http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-05/esc-jamala-ukraine-russland
 

 


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