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BLOG vom: 22.10.2016

Historikerin Brigitte Hamann: die Tiefe der Oberfläche

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH

 


Brigitte Hamann (Quelle: www.derstandard.at/)
 

Brigitte Hamann, geboren als Brigitte Deitert am 26. Juli 1940, dem Tag der heiligen Anna, in Essen, verstorben am 4. Oktober 2016 in Wien, dem Namenstag des Papstes, war eine verdient erfolgreiche deutsch-österreichische Historikerin. Als Meisterin ihrer Textsorte „Lebensgeschichten“ zeigte sie, dass die historische Forschung auf dem Weg des abgewerteten Genres einer für das breite Publikum lesbaren Biographie weitergebracht werden kann. Die einst praktizierende Journalistin, die mit einer eher mittelmässigen Dissertation „Rudolf, Kronprinz und Rebell“ über den durch Selbstmord „abgegangenen“ österreichischen Kronprinzen Rudolf als historiographische Schriftstellerin begann und mit der Lebensgeschichte von Kaiserin Elisabeth („Sisi“) bekannt wurde, zeigte mit ihren besten Werken über die Familie Wagner und „Hitlers Wien“, dass Alltagsgeschichte und vermeintliche Detailkrämerei in sogenannten Banalitäten am Ende bedeutende Erträge bringt. So für die Kulturgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Brigitte Hamann gehörte zweifelsfrei zu den besten Kennerinnen Wiens um die Jahrhundertwende um 1900. Sie ergänzte das Hauptwerk von Stefan Zweig „Die Welt von gestern“ mit bei weitem noch gründlicher recherchierten Details aus jener Zeit.

Für ihre wissenschaftliche Karriere war nicht unbedeutend, dass Brigitte Deitert den österreichischen Kolonial- und Geographiehistoriker Prof. Günter Hamann (1924 – 1994) geheiratet hatte, den sie im Hinblick auf die Wirkung ihrer Publikationen mit der Zeit haushoch übertreffen sollte. Als studierte Germanistin, ansprechende Stilistin und auch dank der einstigen journalistischen Praxis bei der Neuen Ruhr Zeitung  bevorzugte sie die narrative, das heisst erzählerische Darstellung von Geschichte. Ursprünglich praktizierte sie Geschichtsschreibung auf penetrant populäre Art, auch für die Leserschaft der Regenbogenpresse geniessbar: „Gerührt über die tosenden Jubelrufe der Münchner, stellte sich Sisi im Wagen auf, ihr Gesicht tränenüberströmt, und winkte mit ihrem Taschentuch der Menge zu.“ Neidlos bleibt zu gestehen: Einen solchen Satz hätten einem Lektoren der Verlage Suhrkamp, Ammann und Pendo für eine sogenannte wissenschaftliche Biographie nicht durchgehen lassen. Es war aber nicht nur der einzigartige Erfolg, der Hamann recht gab, sondern ihr Sinn für total Unterschätztes. Wer über Prinzessinnen schreibt, hat nichts zu sagen, wenn man als Biographin zum Beispiel nicht gleichzeitig erstklassige Spezialistin für die Geschichte der Coiffure, die Kulturgeschichte der Frisuren und vieles andere mehr ist. Ohne die Coiffeuse Fanny Feifalik kann man nun mal über Sisi nicht kompetent mitreden. Was die Ermordung  der Monarchin 1899 in Genf betrifft, so wäre wohl der politische Hintergrund der Täterschaft im Hinblick auf den Anarchismus jedoch noch breiter darstellbar gewesen.

Wer Details wie die Arbeit einer Coiffeuse, aber auch Erkundungen betreffend die Dienerschaft einer Monarchin für Banalitäten hält, dringt nicht in den Alltag vergangener Zeiten ein. Dies gilt indes nicht nur für königliche und kaiserliche Milieus, sondern zumal für das Männerheim, in dem ein Hitler einen Teil seiner jungen Jahre verbracht hat. Wer die Tiefe der Oberfläche unterschätzt, kommt in der Geschichtsschreibung nicht auf ein wünschbares wissenschaftliches Niveau. Es sind oftmals die ganz kleinen Einzelheiten, welche für eine durchaus kritische Darstellung der Historie entscheidend werden können. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Geschichte des Nationalsozialismus, zu dem Brigitte Hamann einige ernst zu nehmende Beiträge geleistet hat. Ihre Gesamtleistung als Wissenschaftlerin muss zum Beispiel einen Vergleich mit Brigitte Degler-Spengler (1941 – 2015) nicht scheuen. Die im vergangenen Dezember in Basel verstorbene Historikerin hat als wohl beste Kennerin der Spiritualitätsgeschichte des Alpenraums zwar hervorragende Beiträge geleistet. Sie hat es aber nicht verstanden, ihre Forschungen zu popularisieren. Letzteres bliebe für das in der Öffentlichkeit verankerte geschichtliche Allgemeinwissen eine Aufgabe. Von hoher Relevanz zum Beispiel für die Schweizergeschichte könnte  eine biographische Darstellung der einst von  Königsfelden aus wirkenden Habsburgerin Agnes von Ungarn (1280 – 1366) sein, über die aber weder Brigitte Degler-Spengler noch Brigitte Hamann je ihr entsprechendes Wissen öffentlichkeitswirksam umgesetzt haben. Wer sich kurz über Agnes von Ungarn orientieren möchte, dem bleibt Brigitte Hamanns 2001 erschienenes Habsburg-Lexikon dringend empfohlen. Sie war wohl bis zu ihrem Tode die beste Habsburg-Kennerin ihrer Zeit.. Grossartig an der historischen Schriftstellerin Brigitte Hamann finde ich überdies, dass sie sich nicht zu gut fand, über das Leben der Kaiserin Maria Theresia auch ein Jugendbuch zu schreiben. Auch über Marie-Antoinette, Prinzessin von Österreich und Königin von Frankreich, geköpft 1794, war sie besser im Bild als deren bekanntester Biograph Stefan Zweig.

Der Weg von Brigitte Hamann von der Doktorandin über Prinz Rudolf zur wichtigsten Habsburg-Spezialistin der Gegenwart war nicht gerade kurz. Es bedurfte eines beeindruckenden methodischen und faktischen Forschungsaufwandes, um mit der Zeit auch für äusserst heikle Themen wie die Wagners und Hitler in Wien als Historikerin ernst genommen zu werden. Dass sie es geschafft hat, dabei eine breite Leserschaft gefunden, bleibt eine Leistung für die Öffentlichkeit. Zur Veränderung des Geschichtsbewusstseins tragen Brigitte Hamanns detailreiche Erzählungen mehr bei als wenn sie reine „Professorenpublikationen“ für das Forschungsmilieu verfasst hätte.

Unter den von Brigitte Hamann geleisteten Beiträgen zur Geschichte des Hauses Habsburg, darunter die Biographie von Kaiser Franz Joseph, hätte man sich noch ein vertieftes Nachfassen zu ihrem Erstling über Kronprinz Rudolf gewünscht. Der spektakuläre Selbstmord desselben auf Schloss Mayerling mit seiner Geliebten Mary von Vetsera führte bekanntlich analog zu den späteren Fällen John F. Kennedy und Prinzessin Diana zu einem Wust von Spekulationen einschliesslich Verschwörungstheorien bis hin zu Bismarcks Geheimdienst, der hinter der Geschichte von Mayerling stecken soll. Zwei immer wieder gestellte Fragen wiederholte ein Blogger der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Was war in der Stahlkassette, die der Kronprinz Tage zuvor seiner Cousine anvertraute? Wieso ist sein Cousin Johann Salvator nach Südamerika geflüchtet, wo er seinen Tod vortäuschte und angeblich inkognito in Patagonien als Bauer lebte?“ Meines Erachtens hätte Brigitte Hamann solcherlei Fragen ohne weiteres beantworten können. Aber jener Erstling brachte es noch nicht auf die auch für politische Überlegungen weiterführende „Rasterfahndung“, wie sie etwa in der Darstellung des Wiener Antisemitismus zur Zeit Hitlers durchkommt. Brigitte Hamann fehlt in der Historikerszene umso mehr, als sie auch für Auskünfte über ihre Spezialgebiete unkompliziert ansprechbar war, eine Historikerin mit Kommunikationstalent.

 
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