Textatelier
BLOG vom: 06.12.2017

De Ruien

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Eine rätselhafte Geschichte

Verdwaal in het verhaal, maar vind altijd de weg terug.*

Während einer von einem Führer durch die Ruien geleiteten Wanderung über 1,9 km der sich über 8 km Länge erstreckenden mittelalterlichen 9 -15 m tief unter der Erde verlaufenden Kanalisation in Antwerpen, sah der Tourist, derweil die anderen der Ratte hinterherblickten, die vor der Menschengruppe das Weite suchte, bis sie im Dunkel der Röhre nicht mehr zu sehen war, in der Nische, die zu einem Nebengang führte, einen Schatten, offensichtlich, so kam es ihm vor, von einem menschlichen Wesen. So schnell, wie er von der Taschenlampe des Führers erfasst worden war, so schnell verschwand er wieder, so dass der Tourist unsicher wurde, ob es sich wirklich um eine dunkle Gestalt gehandelt hatte oder nicht doch durch einen vom Lichtstrahl der Taschenlampe erzeugten Schatten eines Gruppenmitglieds. Deshalb hielt er sich zurück und sagte nichts, aus Angst vor einer möglichen Blamage, weil er sich durch seine Andeutung lächerlich hätte machen können.

Einige Wochen später wurde in einem dieser Gänge eine männliche Leiche in mittlerem Alter mit einem offenbar von Ratten abgenagtem Gesicht gefunden, offensichtlich ein Mensch, der sich vor das durch die Springflut der Schelde, dem Fluss, der durch Antwerpen führt und bald in die Nordsee mündet, verursachten Hochwassers in der Kanalisationsröhre nicht mehr hatte retten können.

Er wäre wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit eh an Unterernährung gestorben, ergab die Leichenschau. Bis auf kleinere Reste von Fleisch, wahrscheinlich Rattenfleisch, und von 2 Spinnentieren, war sein Magen vollkommen leer. Seine Identität konnte bisher trotz umfangreicher Nachforschungen nicht festgestellt werden.

*

Ein Rui (Wasserweg) ist eine offene Stadtsgracht, geschaffen für den Transport innerhalb der Stadt. Im Mittelalter wurde die Rui auch als offener Abfluss für Fäkalien, Schmutzwasser, Lebensmittelreste und allerlei Abfall benutzt, wodurch Epidemien, wie die Pest, entstehen und sich ausbreiten konnten. Zeitweise wurde den Grachten auch das Trinkwasser entnommen. Als dann das Wasser nur noch zu trübem Bier verarbeitet werden konnte, entschlossen sich die Oberen der Stadt, Wasserleitungen zu bauen.

Im 19. Jahrhundert wurden in vielen Städten die Ruien überwölbt, wodurch die Kanalisationsfunktion übrig blieb, die allerdings später durch Rohre geleitet wurde, zum Beispiel die Antwerpender Ruien, wo unterirdische Bootsfahrten und Führungen in den Ruien immer noch eine touristische Attraktion sind. Das ist vor allem der französischen Besetzung unter Napoleon zu verdanken, der die Überbauung forciert hat.

Andere Städte liessen die Grachten offen für den Transport und bauten ein separates System für Schmutzwasser und Fäkalien, etwa die Grachten in Brügge und in Amsterdam.

Die Wanderung durch den Rui in Antwerpen ist ein interessantes Erlebnis. Zuerst muss der Teilnehmer der Tour sich bereit machen, in dem er/sie einen Overall aus Plastik und Stiefel anzieht. Man bekommt einen Rucksack für die Schuhe und die Jacke ausgehändigt, denn dort unten ist es das ganze Jahr über 16 Grad warm. Ausserdem bekommt jeder Teilnehmer - ganz modern - ein Tablet. Durch Berühren des Strassenamens werden dann historische Geschichten präsentiert und viel über die vergangenen Jahrhunderte erzählt.
Die Gänge sind etwa 3-4 m hoch und ebenso breit. Rechts und links verlaufen die Rohre, wodurch das häusliche Abwasser abgeleitet wird. In der Mitte des ebenen Weges ist ein schmaler Kanal, der Regenwasser führt. An den leichten Gestank gewöhnt man sich schnell. Die Gänge sind nass und glitschig. Der Weg verläuft direkt unter der mittelalterlichen Innenstadt. Die Strassen, worunter man sich befindet, werden unten angezeigt und der Führer erzählt jeweils eine kleine Geschichte zusätzlich zu den Informationen vom Tablet dazu. An manchen Strassen gibt es kleine viereckig gemauerte Öffnungen 9-15 m lang, geradewegs nach oben, die Überschwemmungen auf den Strassen und Plätzen vermeiden helfen sollen.

Zeitweise konnten Erbauer von Gebäuden das Land über den Grachten kostenlos erhalten, so wurden über eine Gracht auch ein Kloster und eine Kirche gebaut. Ein geheimer Gang führte vom Kloster herab in den Rui. Die Mönche hatten dadurch einen Fluchtweg, aber auch eine geheime Möglichkeit, dem strengen Klosterleben für ein paar Stunden zu entfliehen.

Der Rattenkot und auch der von einer winzigen, nur dort unten anzutreffenden Spinne verschimmelt und bildet weisse filigrane Gebilde an den Seitenwänden.

Die Gänge liegen normalerweise im Dunkeln und das Licht wird immer für wenige 100 m angeschaltet, wodurch der hinter den Touristen liegende Weg und der weiter nach vorne nur schwarz kaum erkennbar ist.

 


 

Der Führer zeigt den Touristen auch eine mit der Hand zu bedienende, sich nicht mehr in Gebrauch befindliche Vorrichtung, dort installiert, um zu verhindern, dass der Rui überfliesst. Mittels einer länglichen Schraube konnte das Wasser entweder hineingeleitet oder das Fliessen unterbrochen werden.

Der reine Spaziergang dauert etwa 90 Minuten. Am Ende befindet sich die so genannte Kathedrale, eine Kreuzung, auf die 4 Gänge aus den vier Himmelsrichtungen zusammen kommen. Dort feierten die Bewohner von Antwerpen Feste oder versteckten sich während der deutschen Besatzung und während des Bombardements der Stadt.

Der Ausgang ist nördlich der Altstadt und man kann den Weg oberhalb wieder zurück zum Ausgangspunkt zurücklaufen. Es ist schön, immer wieder daran zu denken, dass man noch vor kurzer Zeit 9-15 m tief unten in der Erde durch den Rui gelaufen ist.

*Verliere dich in der Geschichte, finde aber immer den Weg zurück.

Quelle:
Wikipedia
www.ruien.be

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst