Textatelier
BLOG vom: 20.03.2018

Misas seltsames Benehmen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


Im obersten Stockwerk des Kaufhauses “Sainsbury's” in der Oxford Street ist ein weiter Raum der Kundschaft vorbehalten. Getränke werden dort angeboten und eine Reihe von Tagesmenüs und Snacks. Dort setzte sich eine Dame an einen Rundtisch und bestellte einen Curry. Doch ihre Augen waren diesmal grösser als ihr Magen. Die Hälfte ihrer Mahlzeit blieb auf dem Teller liegen.

Eine Frau erschien und fragte höflich, ob sie sich an ihren Tisch setzen dürfe. “Of course”, antwortete sie und rückte etwas zur Seite. Der Ansatz zum Gespräch war gelegt. Ich heisse Misa, stellte sie sich vor. “Mein Name ist Fari”, stellte sich die Dame ihrerseits vor. “Sie haben anscheinend wenig Hunger”, wies Misa beinahe vorwurfsvoll auf den Teller. “Meistens bleibt bei mir nichts übrig“, entschuldigte sich Fari.

Nach einer Pause gestand Misa, dass Curry ihre Lieblingsspeise sei. “Wenn Sie gestatten, möchte ich gern Ihre Resten geniessen.”

“Be my guest”, erwiderte Fari verblüfft und schob ihr den Teller zu. Fari traute ihren Augen nicht, wie Misa das bereits von ihr benützte Besteck ergriff und flink zu essen begann.

“Das hat mir geschmeckt”, gestand Misa und wischte mit der Serviette ihren Mund ab.

Fari erfuhr, dass Misas Familie aus Saudi-Arabien stammt und sich in London niedergelassen hat. Aber sie musste ihre Familie verlassen, weil ihr Vater darauf bestand, dass sie als Zimmermädchen ihres jüngeren Bruders dienen musste. Aber das ist eine lange Geschichte, winkte sie mit einem Seufzer ab mit dem Hinweis, dass sie zuletzt beschloss, ihren eigenen Weg im Leben, ausserhalb ihrer Familie, zu verfolgen.

Misa winkte dem Kellner: “Bringen Sie uns eine Kanne Tee für zwei.” Fari nahm an, dass sich Misa damit für das Essen revanchieren wollte. Das erwies sich als Trugschluss! “Ich bin arg verspätet, ich bin mit meinem Mann verabredet”, sagte sie und winkte ihrerseits dem Kellner. Sie stellte fest, dass der Kellner ihr den Tee belastet hatte und liess es dabei bewenden. Ehe sie sich von Misa verabschieden konnte, wandte sich Misa an Fari: ”Ich bin heute etwas knapp bei Kasse. Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie mir etwas Kleingeld geben könnten.” Fari reichte ihr eine 10£ Note und entkam ihr.

Fari berichtete ihrem Mann ihre sonderbare Begegnung mit Misa. Weder Fari noch ihr Gatte wurden aus dieser sonderbaren Geschichte klug, wie sich Misa auf fremde Kost durchs Leben schlängelte. Es gibt halt verschiedene Kostgänger im Leben, kamen sie zum Schluss und liessen es dabei bewenden.

 


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