Textatelier
BLOG vom: 06.05.2005

Wenn der Waldmeister zur süffigen Mai-Bowle wird

Autor: Heinz Scholz

Wer im Mai durch lichte und schattige Buchenwälder geht, findet nicht nur den Bärlauch in voller Blütenpracht, sondern auch den Waldmeister (Galium odoratum/Asperula odorata), der mit seinen weissen Sternblüten und in Quirlen angeordneten lanzettförmigen Blättern leicht zu erkennen ist. Im frischen Zustand duftet der Waldmeister kaum, erst beim Trocknen wird das duftende Cumarin abgespalten.

 

Die weissen Blüten erinnern ans Aussehen eines Kreuzes. „Eben dieses Kreuz scheint auch der Ursprung des eidgenössischen Kreuzes der Schweizer zu sein. Der Schweizer Pfarrer Johann Künzle erblickte nämlich in den Blüten des Waldmeisters das Kreuz und versprach, dass der liebe Gott die Schweizer nicht verlassen werde, solange sie das Kreuz hochhielten“, wusste Michael Kindt im Internet zu berichten.

 

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als Familienmitglieder im Mai und Juni in die Wälder strömten, um das blühende Kraut zu sammeln. Dann wurde eine süffige Mai-Bowle fabriziert. Meine Mutter bereitete diese Bowle wie folgt zu: Sie hängte 2 bis 3 Zweige Waldmeister mit den angewelkten Blüten nach unten in einen halben Liter Weisswein. Nach einer halben Stunde wurde der Waldmeister herausgenommen und 1,5 Liter Weisswein und 1 Liter Sekt hinzugefügt. Ab und zu bereitete sie auch eine alkoholfreie Bowle, bestehend aus Waldmeister, weissem Traubensaft und kohlensäurehaltigem Mineralwasser.

 

Eine solche oder ähnlich hergestellte Bowle scheint einige Redakteure der „Süddeutschen Zeitung“ so beeindruckt zu haben, dass sie diese als ein „Schlüssel zum Glück“ bezeichneten.

 

Auch der grün gefärbte Waldmeister-Wackelpudding, den meine Mutter auftischte und Küchenchefs in den Kantinen von Thomae und Ciba-Geigy besonders in den Sommermonaten zubereiteten, ist mir noch lebhaft im Gedächtnis. Der aus Waldmeister, Apfelsaft und Gelatine bestehende Pudding war so erfrischend, dass wir öfters einen Nachschlag verlangten.

 

Als ich an der Chemieschule von Dr. Rudolf Hallermayer in Augsburg mein Wissen erweiterte, besuchte ich mit Kollegen öfters eine in der Nähe befindliche Gaststätte. Wir wurden besonders von den exzellenten „geistigen“ Getränken angezogen. Am besten mundeten uns der Wermutwein und die Mai-Bowle. Nachdem wir zur Mittagszeit diese „Kräutermedizin“ einnahmen, gingen wir beschwingt und gestärkt zum nachmittäglichen praktischen Unterricht. Der Chemielehrer, der präparative Chemie unterrichtete, war von unserem Elan bei der Herstellung von Präparaten sehr begeistert. Wir mussten damals entweder synthetische Verbindungen herstellen oder aus Naturprodukten Wirkstoffe isolieren. So erzielte ich bei der Koffein-Isolierung aus Tee-Extrakt hohe Ausbeuten. Dies lag wohl doch nicht an der elanerhöhenden Wirkung der Mai-Bowle, sondern an der exakten Durchführung des Experiments.

 

In der Chemieschule erfuhren wir dann auch, dass der Waldmeister nicht im Übermass genossen werden sollte, da das Cumarin zu Kopfschmerzen, Schwindel oder Erbrechen führen kann. Der Chemielehrer fand jedoch auch tröstende Worte: Kleine Mengen, wie in den Bowlen, sind ungefährlich. Sie wirken leicht beschwingend und lindern sogar Kopfschmerzen. Vielleicht hatte der Dozent unsere Vorlieben erkannt oder er süffelte auch diese Kräutermedizin. Er war in der Maizeit auffällig gesprächig und nett. Lag es an der Bowle, oder an den Frühlingsgefühlen?

 

Auch die Klosterbrüder wussten den Waldmeister zu schätzen. Sie stellten aus Waldmeisterkraut, Walderdbeerblättern, Blättern der schwarzen Johannisbeere und der Gundelrebe (Gundermann) einen Maitrank her. Das Rezept ist in meinem Heilpflanzenbuch „Arnika und Frauenwohl“ aufgeführt (Infos unter „Alle Buchangebote“).

 

Die Herstellung des Maitranks hat eine lange Tradition. Diese geht bis auf das Jahr 854 zurück. In diesem Jahr stellte der Benediktinermönch Wandalbertus aus der Eifelstadt Prünn erstmals einen Maitrank aus Waldmeister und anderen Kräutern her.

 

Der Waldmeister hat heute als Heilpflanze kaum noch Bedeutung. Der Tee vom blühenden Kraut wurde früher bei Leber- und Darmstörungen, Krämpfen, Nervosität, Migräne und Menstruationsbeschwerden verwendet.

 

Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857–1945) erwähnte in seinem „Grossen Kräuterheilbuch“ eine Anwendung, die mich erstaunte. So war getrockneter Waldmeister, zusammen mit Huflattich- und Minzenblättern, eine aromatische Tabakbeimischung.

 

Der Wonnemonat Mai hat also Einiges zu bieten. Geniessen wir den Maitrank mit oder ohne Alkohol. Vielleicht verhilft er uns, die Frühjahrsmüdigkeit zu vergessen.

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