Der Nikolaus kommt!
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland
Alle Jahre wieder! Zum Jahresablauf gehören Feste  dazu. Besonders die Zeit um das christliche Weihnachtsfest herum. Wir haben da  St. Martin mit den Martinsumzügen in jedem Stadtteil, das Nikolausfest, und  natürlich das Weihnachtsfest selbst mit den 2-3 freien Tagen, je nachdem ob der  24.12. vom Arbeitgeber auch als freier Tag eingestuft wird.
    
   Rund um diese Zeit, Anfang Dezember, finden Nikolausmärkte  und Nikolausfeiern, manchmal etwas verfrüht auch Weihnachtsmärkte und -feiern  genannt, statt.
Ich betrete einen Saal, dort steht eine lange  Tischreihe, geschmückt mit Tannenzweigen, die in der Mitte, zusammen mit  verteilten Walnüssen und Spekulatius angeordnet sind,  Tassen und Teller und davor die Stühle.  Ausserdem sind bereits Thermoskannen mit Kaffee auf den Tischen verteilt. 
    
   Ich bin nicht der erste Besucher. Einige sind  schon da, der zuständige Leiter des Sozialen Hilfswerks und andere fleissige  Helfer. Auf einem Nebentisch sind bereits Schüsseln mit Kartoffelsalat und  Frikadellen, Teller mit belegten Brötchenhälften, ausserdem eine grosse Anzahl  von Kuchen und Plätzchen abgestellt. Auch ich stelle einen Teller mit Lebkuchen  dazu.
    
   Die Feier wird vor allem für geistig Behinderte,  der medizinische Ausdruck "Menschen mit mentaler Retardierung" ist  meines Erachtens neutraler, und ihre ehrenamtlich tätigen Betreuer  veranstaltet. Auch ich habe F. von seiner Wohnung, in der er selbstständig mit Unterstützung  mehrerer Sozialpädagogen, die ihn ein par Mal in der Woche aufsuchen, lebt,  abgeholt und bin mit ihm hierhin gefahren.
    
   Bei den Betreuten bestehen die  unterschiedlichsten Behinderungen, sowohl geistiger, als auch zusätzlich noch  körperlicher Art. Mit den einen kann man in einem gewissen Rahmen  kommunizieren, manchmal können sie selbst nicht artikulieren, aber verstehen  einfache Wörter und Sätze, mit anderen ist eine sprachliche Kommunikation kaum  möglich.
    
   Anders als im Tierreich, in dem in der Regel das  schwächere, nicht lebenstüchtige Tier früh einem Beutetier zum Opfer fällt oder  verhungert, gelten für geistig und körperlich behinderte, ohne Hilfe nicht  lebensfähige Menschen das Lebensrecht und ein uneingeschränkter Schutz und  Unterstützung.
    
   F. freut sich schon lange auf diesen Tag. Er kann  zwar genau sagen, wann er und seine Frau (im letzten Jahr haben die beiden  geheiratet, seine Frau ist aber zusätzlich körperlich erkrankt und kann nicht  teilnehmen) und einige andere Bekannte Geburtstag haben und wie alt sie werden,  aber genau abschätzen, was 2 oder 4 Wochen sind, kann er kaum, auch wenn er  seinen Wochenablauf genau einteilen kann. In einer besonders für diese Menschen  geeigneten Werkstatt arbeitet er seit vielen Jahren und verpackt oder  verschweisst Waren aller Art, eine immer ähnliche Tätigkeit, die ihm sehr viel  Genugtuung und Freude bereitet. 
    
   Langsam füllt sich der Saal. Diese Veranstaltung  wird von mir und von F. schon seit 20 Jahren besucht, so kennen wir die anderen  Teilnehmer, bis auf wenige neue, recht gut, und es erfolgt eine lebhafte  Begrüssung untereinander.
    
   Die Retardierten sind etwa zwischen 40 und 70  Jahre alt, ähnlich wie die meisten Betreuer auch. Neben mir sitzt eine alte  Bekannte, die bereits über 25 Jahre B. betreut. B. ist heute "nicht gut  drauf", ihre Windel stört sie und so steht sie vom Stuhl auf, öffnet ihre  Hose und zieht sie aus ihrer weissen Unterhose heraus. Die Betreuerin macht sie  darauf aufmerksam, dass das nicht gehe, schimpft ein wenig mit ihr, geht aber  dann mit ihr zur Toilette, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Kaum sitzt B.  wieder an ihrem Platz, beginnt sie aufs Neue. Zuletzt wird die Windel auf den  Stuhl gelegt, B. bleibt darauf sitzen und ist zufrieden. Sie kann sich nicht  äussern, was ihr nicht passt und warum sie so reagiert.
    
   M. ist Kettenraucher und immer nervös, wenn er  seiner Leidenschaft nicht nachkommen kann Mit den Jahren ist er ruhiger und  gesetzter geworden. Man sieht ihm die Retardierung nicht an, ebenso wie einige  anderen, die aber aufgrund ihrer Behinderung nicht ohne Unterstützung leben  könnten, also ohne die Betreuer, die sich unter anderen um ihre Finanzen,  Arztbesuche,  und den Papierkram, evtl.  auch um einen Umzug ins Heim oder Krankenhaus, usw. kümmern. Manchmal ist die Retardierung  direkt kaum feststellbar, so arbeitet E. in einem Café als Bedienung. Dort geht  es langsamer als anderswo zu, aber sie erledigt ihre Aufgabe gewissenhaft.
    
   P., eine schlanke Frau mit eingefallenen Wangen  und heruntergezogenen Mundwinkeln und brummig ausschauendem Gesichtsausdruck,  ist unruhig, steht immer wieder auf und schimpft vor sich hin.
    
   Zuerst verschafft sich jeder, was er mag oder  wird mit Essbarem versorgt. Einige der Retardierten packen sich die Teller mit  Kartoffelsalat und Frikadellen hoch voll, sie können eben nicht einschätzen,  wie viel sie essen und vertragen können. Andere beginnen damit und gehen danach  noch ein paar Mal nachholen, wobei sie von Herzhaftem zum Kuchen (oder  umgekehrt) wechseln.
    
   An der Wand hat eine Seniorengruppe mit  Blasinstrumenten Platz genommen, auch für sie ist es eine jährlich  wiederkehrende Herzensangelegenheit, hier Weihnachtslieder zu blasen. Der  Tuba-Spieler ist neu. Er ist noch nicht recht in das Spiel der anderen Bläser  integriert und produziert einige falsche Töne.
   Ein Retardierter hält sich die Ohren zu, der  Leiter drückt seine Nasenspitze in Richtung seines Mundes und schaut ein wenig  unglücklich.
    
   Nach den ersten Liedern "Leise rieselt der  Schnee" und "O Tannenbaum" wird es ein wenig besser, die Gruppe  ist es nicht gewohnt, Weihnachtslieder zu spielen, die scheinbar mit  Blasinstrumenten besonderes Talent erfordern, wenn sie gut ins Ohr gehen  wollen.
    
   Den Teilnehmern wurden vorher einige Kopien mit  Noten und Liedtexten ausgehändigt, auch F., der absoluter Analphabet ist, will  jedes  Jahr wieder sein Exemplar in der  Hand halten, wobei ich ihm immer wieder zeigen muss, welches Lied an der Reihe  ist, damit er die entsprechende Seite auch vor sich hat. Alle singen mit und  die meisten kennen auch die Texte, mitunter auch die zweite und dritte Strophe  der Lieder auswendig. Der Gesang geht fast unter, die Blasinstrumente übertönen  ihn.
    
   Ab und an werden die Weihnachtslieder verulkt, so  heisst es nicht "am Weihnachtsbaume die Lichter brennen", sondern  "am Weihnachtsbaume, da hängt 'ne Pflaume" und der  "Tannenbaum" klingt weniger lustig als der "Tantenbaum".
    
   Nach dem Singen des Liedes "Lasst uns froh  und munter sein" kommt der Nikolaus. Er trägt ein Bischofskostüm und eine  Mitra. Ein Helfer schiebt einen Wagen mit hinein, auf dem die Tüten mit den  Geschenken für die Retardierten stehen.
    
   Sie werden einzeln aufgerufen und aufgefordert,  nach vorn zum Nikolaus zu kommen. Er spricht sie an, betont, was im Laufe des  letzten Jahres in deren Leben vorgefallen ist, kritisiert die eine oder andere  Unart und lobt sie für gutes Benehmen. Danach erhalten sie eine prall gefüllte  Tüte mit kleinen Geschenken und Süssigkeiten, die von den Betreuern liebevoll  zusammengestellt worden ist.
    
   Einzelne der zu Beschenkenden weigern sich, nach  vorn zu kommen. Dann erbarmt sich der Nikolaus und geht auch zu ihnen.  Besonders  P. hat ein wenig Angst vor  dieser fremden Gestalt, bequemt sich aber am Ende doch, zu ihm zu gehen.
    
   M. wird ermahnt, es sei besser, weniger zu  rauchen. Der Nikolaus ahnt, dass das bestimmt nichts hilft, und in der Tüte  finden sich unweigerlich auch eine Schachtel Zigaretten und ein Anzünder.
    
   Alle bekommen noch einen Stutenkerl, auch  Weckmann genannt, ein "Gebildbrot" in Form eines Mannes aus Hefeteig,  mit einer kleinen Pfeife aus Gips ausgestattet, ausgehändigt, auch die  Betreuer.
    
   Nach einer weiteren Runde mit Kaffee und Kuchen  werden die Retardierten nach 2 Stunden langsam unruhig. Die Betreuer helfen  noch schnell beim Abräumen der Tische, und die ersten Teilnehmer machen sich  langsam auf den Weg.
    
   Es war wieder schön und unterhaltsam. Man freut  sich auf die nächsten Zusammenkünfte, auf das Grillfest im Sommer und auf den  nächsten Dezember. Man wird sich wiedersehen!
    
   F. hat unter anderem ein kleines Puzzle bekommen.  Ich bin gespannt, ob er es zusammen mit seiner Frau hinbekommt, aus den vielen  Stückchen ein Bild zu legen. Ich bin optimistisch!
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