Ghostwriter- und Übersetzer-Schicksale
Kürzlich fragte mich ein Handwerker, ob denn das Textatelier in der Lage sei, für ihn zu günstigen Konditionen einen Brief aus dem Polnischen in die deutsche Sprache zu übersetzen. Als Sprachwerker versprach ich ihm, eine Lösung zu finden, obschon Übersetzungen nicht zu unserem Angebot gehören und mir die polnische Sprache leider fremd ist. In der Regel verweisen wir Kunden an professionelle Übersetzungsbüros.
Einfache Texte können mit maschinellen Programmen, die im Internet installiert sind (wie zum Beispiel http://babelfish.altavista.com/) übersetzt werden, und man kann aus dem Gestammel dann meistens den Sinn mit etwas Phantasie schon noch herauslesen, allenfalls noch unter Beizug eines Wörterbuches. In der Regel geht es bei diesen Maschinen immer um Übertragungen ins Englische oder um solche aus dem Englischen. Exotik-Kombinationen wie Polnisch Deutsch sind nicht im Angebot.
Beim Studium maschineller Übersetzungen erinnere ich mich jeweils an meine frühen Kindheitsjahre. Schon damals war ich ganz versessen auf Wörter, versuchte alles zu entziffern, was mir zu Gesichte kam, Zeitungen, Flugblätter, Briefe, auch angeschriebene Häuser. Und bei fremden Sprachen dachte ich, man müsste nur die einzelnen Buchstaben vertauschen. Ich studierte die damals 3- oder gar 4-sprachig beschrifteten Lebensmittel-Verpackungen und sah bald einmal ein, dass jede Sprache für jedes Ding und jedes Wort einen eigenen Begriff verwendete, der nicht durch ein einfaches Buchstaben-Vertauschen zu ermitteln war. Man muss fremdsprachige Wörter schlicht und einfach auswendig lernen und sich einprägen.
In einer späteren Phase merkte ich dann noch, dass man nicht einfach Wort-für-Wort-Übersetzungen machen kann, wie das auf der Tomatendose noch möglich ist (Tomaten, Tomates, Pomodori). Wenn es um ganze Sätze geht, hat man den Sinn einer Aussage zu erfassen, und dieser Sinn muss in der Denkweise der Zielsprache wiedergegeben werden. Vielfach sind ganz andere Wörter, d.h. die Umsetzung in andere Bilder, erforderlich. Schon Sankt Hieronymus wusste, dass beim Übersetzen "non verbum e verbo, sed sensum exprimere sensu" ("nicht Wort für Wort, sondern Sinn für Sinn") zu beachten ist, will man nicht Nonsens produzieren. Zudem hat jedes Wort 2 Grundqualitäten: Klang und Bedeutung. Und das kompliziert die Übersetzung noch einmal, weil man die sich ständig wandelnde Denkweise und Klangwelt einer anderen Kultur begriffen haben muss. Sprachen sind verdreht, zerschlissen, schemenhaft, dem Zeitgeist unterworfen, unpräzise; auch solche Aspekte sind zu berücksichtigen.
Gerade die osteuropäischen Sprachen haben solche Zusammenhänge seit je erkannt, und die Wortbedeutungen verraten einen ausgesprochenen Tiefgang im Denken. So ist das tschechische prekladat (übersetzen) gleichbedeutend mit dem deutschsprachigen überlegen. Im Polnischen heisst tlumaczic (übersetzen) wörtlich erklären, und das russische pjerevodit (übersetzen) heisst genau genommen überführen. In diesen Wörtern offenbaren sich die wesentlichsten Aufgaben des Übersetzers. Er muss etwas, das in einer bestimmten Sprache geschrieben worden ist, in einer anderen Sprache erklären, das heisst er muss einen Text derart umwandeln, dass er in einer anderen Kultur verständlich wird und die Botschaft ihren Sinn unverändert behält. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass viele gleichlautende Wörter in anderen Kulturräumen andere Bedeutungen haben.
Im Zusammenhang mit der Aufgabe, den erwähnten Brief aus Polen mit den für uns teilweise fremdartigen slawischen Schriftzeichen wie orale und nasale Vokale zu übersetzen, zog ich mit kühnem Griff das Buch "Zur Literatur und Kultur Polens" von Karl Dedecius (erschienen 1981 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main) aus meiner Bibliothek. Das war zwar keine Übersetzungshilfe (diese fand ich bei einem Übersetzer in Polen). Doch in dem Buch ist die Kunst des Übersetzens in geistreicher, einzigartiger und umfassender Weise dargestellt.
Dedecius, damaliger Leiter des Deutschen Polen-Instituts (bis 1998) und bedeutendster Polenkenner Deutschlands, schreibt darin: "Mich reizt am Übersetzen gerade die Gelegenheit der Metamorphose, die vielfache Möglichkeit, mit Hilfe des Mediums Sprache ein Jahrhundert früher und später zugleich zu erfahren, die hellen und die dunklen Töne zugleich zu hören, in einem Leben mehrere Leben zu erleben. Der literarische Betrieb von heute hat den Autor aus seinem Paradies vertrieben. Seine Lage ist nicht selten mit der eines Filmstars vergleichbar. Man kennt seine Augenfarbe, seinen Haarschnitt und seine Schuhgrösse. Man hat sich an seinen Tonfall, seinen Gang und seine Grübchen gewöhnt; man liebt sie und verlangt nach ihnen immer wieder, in jedem Streifen, in jeder Position. Der Übersetzer dagegen darf noch ungehindert, sogar legitim, die Haut wechseln, in seinem nicht alltäglichen Alltag Tragödien mitleiden und an Komödien teilhaben, so er nur will. Er darf Abend für Abend in einem anderen Stück auftreten und eine multiplizierte Vielfalt des Daseins und der Charaktere geniessen."
Karl Dedecius erwähnt dann noch, solche Anforderungen seien es, die das Übersetzen zur Kunst erheben würden. Doch das Resultat sei nicht immer ein Kunstwerk. Es gebe "gute, miserable, treue, freie, interlineare, parodierende, interpretierende, adäquate, sogar kongeniale" (einem genialen Werk entsprechende). Alle nenne man einfach "Übersetzung", und in jedem Fall handle es sich um etwas anderes. Voltaire sagte einmal, Übersetzungen seien wie Frauen: entweder schön, dann nicht treu, oder treu, dann eben nicht schön.
Viele Berufe haben mit Verwandlungen zu tun, nicht allein die Übersetzer, sondern auch die erwähnten Schauspieler, aber auch die Ghostwriter. Diese müssen in der Lage sein, unterschiedliche Rollen zu spielen, vielleicht jeden Tag eine vollkommen andere. Und das sind ausserordentlich anspruchsvolle Aufgaben. Schon das Schreiben nach eigenem Gefühl ist schwierig genug, eine Tätigkeit, die aus Tausenden von einsamen Entschlüssen besteht; "jedes Wort stellt uns vor neue Probleme, deren Lösungen wir nirgendwo fix und fertig nachschlagen können" (Dedecius). Und noch unendlich viel schwieriger ist, gewissermassen mit einer fremden Feder (aber mit dem gleichen Hirn) zu schreiben, die Sicht-, Denk- und Argumentationsweise eines anderen Menschen zu übernehmen, heroische Herausforderungen, die mehr oder weniger gut herauskommen. Da sind Feinfühligkeit und subtiles Sprachgefühl nötig. Oft ist Undenkbares und Unerklärliches denkbar beziehungsweise erklärbar zu machen.
Preisfragen
Nicht immer stimmt der Lohn für eine Arbeit mit dem Umfang der Ansprüche überein. Sonst müssten die Manager, die zahllose Traditionsunternehmen heruntergewirtschaftet und dafür Millionen kassiert haben, Geld bringen statt erhalten. Die Preise für Arbeitsleistungen (Löhne) ergeben sich aus verschiedenen Randbedingungen, die manchmal schwierig zu durchschauen sind. Die Gerechtigkeit macht manchmal Pause.
Im Sommer 2002 hatte ich den anspruchsvollen Text einer Rede zu formulieren, die in Frankreich vor einem internationalen Publikum in englischer Sprache vorgetragen wurde und bei der Dutzende von Vorgaben zu erfüllen waren; sie betrafen u.a. Inhalt, geschichtliche Bezüge, Form, auflockernde Elemente, usf. Ich schrieb den Text in deutscher Sprache, den wir von einem renommierten Büro ins Englische übertragen liessen. Es erwies sich, dass die Übersetzung um ein Drittel teurer war als das Verfassen des Redetextes. Die Rechnungsstellung bezieht sich in solchen Fällen auf die Zahl der Normzeilen zu zirka 55 Anschlägen, wenn nichts anderes vereinbart ist: Der Textatelier-Ansatz beträgt 3 CHF pro Normzeile; derjenige der Übersetzer 4 CHF.
Ich habe mich mit unserer Lyrikerin Bettina Bauer über diese Preisdifferenz unterhalten. Diese sprachkundige Textatelier-Autorin hat bereits zahlreiche, vor allem wissenschaftliche Werke aus der englischen in die deutsche Sprache übertragen. Ich fragte sie mit Bezug auf die erwähnte Preisdifferenz, was denn anspruchsvoller sei, eigene Texte zu schreiben oder einen vorgegebenen Text zu übersetzen. Sie schrieb mir dazu einleitend, es gebe auch billigere Übersetzungen; doch müsse man dann in der Regel mit einer miserablen Qualität rechnen.
Zu meiner Frage führte sie aus: "Ich kenne beides aus eigener Erfahrung: Originaltexte schreiben und Texte anderer Autoren übersetzen. Es ist beides gleich anspruchsvoll, und in beiden Fällen kann man oberflächlich arbeiten bzw. pfuschen oder sich alle Mühe geben bzw. das Beste aus einem Text machen (es gibt sogar Übersetzungen, die besser sind als das Original; in diesem Fall war der Übersetzer seiner Arbeit gegenüber anspruchsvoller als der ursprüngliche Autor).
Vom Handwerklichen her ist das Übersetzen allerdings etwas ganz anderes als das Schreiben eigener Texte. Das ist ein bisschen wie Ghostwriting: Die Absichten des Autors sollten so genau als möglich wiedergegeben werden, d.h. der Übersetzer muss versuchen, sich mit dem Autor zu identifizieren. Das kann so weit gehen, dass auch dessen Stil in der Übersetzung imitiert wird. Die perfekte Übersetzung vereinigt alle diese Ansprüche und muss erst noch flüssig zu lesen und sprachlich perfekt sein. Voraussetzung ist die Beherrschung sowohl der Ausgangs- als auch der Zielsprache; insofern ist das Übersetzen anspruchsvoller als das Originalschreiben, das die Kenntnis nur einer Sprache erfordert.
Gute Übersetzungsbüros können sich auf kommerziellem Gebiet eine goldene Nase verdienen, besonders wenn ihre Zielsprache nicht jene der Region ist, in der sie arbeiten, also z.B. Englisch im deutschen Sprachgebiet. Allerdings sieht das auf literarischem Gebiet ganz anders aus. Die Verlage honorieren auch sehr gute Übersetzungen von Romanen usw. nur mit einem besseren Trinkgeld. Deshalb gibt es in der Literatur so oft schlechte Übersetzungen. Da pro Seite honoriert wird, wenden viele Übersetzer so wenig Zeit als möglich für ihre Arbeit auf, um wenigstens einigermassen auf ihre Kosten zu kommen."
Die Folgen bleiben nicht aus. Der US-Dichter Robert Frost sagte einmal frustriert: "Das Dichterische ist das, was beim Übersetzen verloren geht." Es geht beim Übersetzen und ebenso beim Ghostwriting auch um ein Übersetzen im übertragenen Sinne, um eine Überquerung, gewissermassen hinüber von einer Flussseite auf die andere, also um den Übertritt in eine fremde Welt. Und während der Flussüberquerung muss die Anpassung an die Verhältnisse auf der anderen Seite erfolgen, ohne dass es dabei zu Verlusten kommt.
Den Idealfall hat Bettina Bauer erwähnt: Besser sein als das Original. Wir wollen das im leicht abgewandelten Sinn zu unserem Leitmotiv erheben: Beste Originale kreieren trotz attraktiver Tarife.
Walter Hess
Herbstzeitlosen Herbstzeitlosen lauschen leise Bettina Bauer |