Wie schreibt man denn jetzt?
Vom reformierten reformerischen Nonsens zum wandlungsfähigen Regelbrei
Autor: Walter Hess
Die deutsche Sprache sollte sanft und ehrfurchtsvoll zu
den toten Sprachen abgelegt werden, denn nur die Toten
haben die Zeit, diese Sprache zu erlernen.
Mark Twain (1835–1910)
Seid innovativ! Das ist der Schlachtruf dieser neoliberalisierenden Zeit. Daraus ist eine eigentliche Veränderungswut entstanden, wobei die meisten Produkte der Manie erlegen sind, Bestehendes mit Bleigewichten zu versehen und über Bord zu werfen, um ganz sicher zu sein, dass es nie, nie mehr auftaucht. Loslassen lautet das moderne Zauberwort, das für die Wegwerfgesellschaft wie geschaffen ist. Rohstoff- und Energieverschwendung um des Umsatzes willen. Die Produzenten stellen sich darauf ein und sorgen dafür, dass Reparaturen entweder verunmöglicht sind oder sich nicht mehr lohnen.
Allerdings ist, was da an Innovationen herauskommt, oft nur ein billiger Abklatsch anderweitig bestehender Erfolgsmodelle. Sogar die Fernsehstationen entblöden sich nicht, ihren unbändigen Nachahmungstrieb auszuleben. Unbesehen werden Formate und ganze Serien übernommen, meistens aus den USA, weil sie Niveausenkungen garantieren und damit vermeintlich für bessere Quoten gut sind. Das Abkupfern ist zum medialen Lebensstil geworden – immer im Zeichen der „Erneuerung“, die oft ein Herlaufen hinter so genannten Vorgaben ist – selbst an der Börse, wobei die sklavisch befolgten Vorgaben von der Wall Street kommen. Da braucht es schon Bretter beziehungsweise Mauern vor dem Kopf.
Positiv besetzte Innovationen
Eine grundlegende Fehlkalkulation besteht darin, dass Erneuerungen a priori als etwas Sinnvolles, Erstrebenswertes, Weiterführendes gelten. Genau das sind sie nicht oder meistens nicht. Sie können die ganze Bandbreite von Dummheiten mit Zerstörungseffekten (siehe Swissair-Management) über Gleichwertigkeiten bis (in Ausnahmefällen) zu tatsächlichen Verbesserungen aufweisen.
Rechtschreiberische Verirrungen
Ein bezeichnendes Beispiel für einen destruktiven reformerischen Nonsens ist die missglückte Rechtschreibreform, welche der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ in die Welt der deutschen Orthographie gesetzt hatte. Da wurde die Getrennt- und Zusammenschreibung blindlings zerhackt, bis der Wortsinn im Eimer war; die Gross- und Kleinschreibung und die Zeichensetzung wurden ohne Rücksicht darauf, dass die Verständlichkeit das Wichtigste am Sprachgebrauch sein sollte, durch den Fleischwolf gedreht, so dass am Ende niemand mehr drauskam und sich ein regelrechter Rechtschreibkrieg entfaltete; wahrscheinlich wären selbst Buchstaben zu Kleinholz verarbeitet worden, wenn sich das hätte machen lassen. Die echt innovativen Entgleisungen erzwangen dann Reformen der Reformen, die endlich in die neue „Amtliche Rechtschreibung“ mündete, welche nach all den Vorgeschichten ihre Anziehungskraft verloren hat. Wird wohl auch sie bald wieder abgeändert? Sie gilt nach dem Willen der Kultusministerkonferenz und der Ministerpräsidentenkonferenz seit dem 1. August 2006 und ist die innovative Überarbeitung des missglückten „Amtlichen Regelwerks 2004“, das sein 2. Lebensjahr nicht überdauert hat.
Der Triumph der Flexibilität
Edel sei der Mensch, flexibel und gut. Und genau daran erinnerten sich auch die Sprachkoryphäen. Sie setzten auf dehnbare Lösungen, ähnlich den Gummiparagraphen in Gesetzgebungen. Und so bleibt denn überall, wo sich selbst die im sprachlichen Labyrinth gereiften Germanisten nicht einig waren, etwa bei flektierten und abgeleiteten Wörtern eine Wahlmöglichkeit erhalten.
So schreibt man jetzt e oder ä in Wörtern wie
- Schenke / Schänke (wegen ausschenken / Ausschank ),
- aufwendig / aufwändig (wegen aufwenden / Aufwand ).
Bei der Integration entlehnter Wörter kann freundlicherweise zwischen der fremdsprachigen Schreibung und einer integrierten Schreibung gewählt werden:
- Drainage – Dränage, Mayonnaise – Majonäse, Mohair – Mohär, Polonaise – Polonäse, Bouclé – Buklee. Doublé – Dublee, Café – Kaffee (mit Bedeutungsdifferenzierung), Sauce – Sosse, Bouquet – Bukett, Coupon – Kupon, Nougat – Nugat, Photographie – Fotografie, phantastisch – fantastisch, Spaghetti – Spagetti, Yacht – Jacht, Thunfisch – Tunfisch, substantiell – substanziell.
- Für das scharfe (stimmlose) [s] nach langem Vokal oder Diphthong (= Doppellaut) wie Maß, Straße, heißen schreibt man außerhalb der Schweiz eben mit ß. Uns Tellensöhnen und -töchtern in der Alpenrepublik, wo wegen der grassierenden Vielsprachigkeit dieses Scharf-S (Eszett) auf der Tastatur schon im Schreibmaschinen-Zeitalter keinen Platz mehr fand, bleibt das vertraute ss erhalten. Auch diesbezüglich gibt es also gewisse Wahlmöglichkeiten, vor allem in der Gestalt landestypischer Unterschiede.
Auch die ehemaligen missglückten Regeln über Zusammen- und Getrenntschreibung wurden korrigiert, damit die Verständlichkeit wieder einigermassen gewährleistet ist:
- wohl fühlen – wohlfühlen, schwer beschädigt – schwerbeschädigt.
In vielen Fällen bleibt es dem Schreibenden überlassen, getrennt oder zusammenzuschreiben:
- klein schneiden – kleinschneiden, kalt stellen – kaltstellen, kaputt machen – kaputtmachen.
Verbindungen aus 2 Tätigkeitswörtern werden immer getrennt geschrieben:
- laufen lernen, arbeiten kommen, baden gehen.
Aber bei bleiben und lassen als 2. Bestandteil ist bei übertragener Bedeutung auch eine Zusammenschreibung möglich:
- sitzen bleiben – sitzenbleiben (= nicht versetzt werden), kennen lernen – kennenlernen (Erfahrung mit etwas oder jemandem haben), liegen bleiben – liegenbleiben (= unerledigt bleiben).
Verbindungen mit sein werden getrennt geschrieben:
- beisammen sein, fertig sein, vonnöten sein, vorhanden sein, zufrieden sein.
- Auch bei der Konjunktion so dass – sodass kann der Schreiber frei wählen ...
- ... ebenso bei Fügungen in präpositionaler Verwendung: anstelle – an Stelle, aufgrund – auf Grund, aufseiten – auf Seiten, mithilfe – mit Hilfe, zugunsten – zu Gunsten, zulasten – zu Lasten.
Selbst in der Gross- und Kleinschreibung sind die Regeln aufgeweicht:
- Wenn hundert und tausend eine unbestimmte (nicht in Ziffern schreibbare) Menge angeben, können sie auch auf die Zahlsubstantive Hundert und Tausend bezogen werden; entsprechend kann man sie dann klein- oder grossschreiben, zum Beispiel: Es kamen viele tausende / Tausende von Zuschauern. Sie strömten zu aberhunderten / Aberhunderten herein. Mehrere tausend / Tausend Menschen füllten das Stadion. Der Beifall zigtausender / Zigtausender von Zuschauern war ihr gewiss. Entsprechend auch: Der Stoff wird in einigen Dutzend / dutzend Farben angeboten. Der Fall war angesichts Dutzender / dutzender von Augenzeugen klar.
Verständlichkeit über alles
Wer also etwas Sprachgefühl hat, wird automatisch die für den Einzelfall richtige Lösung finden, und diese hat sich immer auf das Leserbedürfnis nach Verständlichkeit auszurichten. Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Zeichensetzung, die eine wichtige Bedeutung für das verstehende Erfassen hat, indem sie zur Gliederung der Wortansammlungen (des Satzganzen) beitragen; auch Einschübe mit einem paarigen Komma:
- Er sagte, dass er morgen komme, und verabschiedete sich. Mein Onkel, ein grosser Tierfreund, und seine Katzen leben in einer alten Mühle. Sie fragte: „Brauchen Sie die Unterlagen?“, und öffnete die Schublade.
In einigen Fällen ist auch die Kommasetzung nach Lust und Laune möglich:
- Morgen wird es regnen, angenommen(,) dass der Wetterbericht stimmt. Wir fahren morgen, ausgenommen(,) wenn es regnet. Ich glaube nicht, dass er anruft, geschweige(,) dass er vorbeikommt. Ich glaube nicht, dass er anruft, geschweige denn(,) dass er vorbeikommt. Ich komme morgen, gleichviel(,) ob er es will oder nicht. Ich werde ihnen gegenüber abweisend oder entgegenkommend sein, je nachdem(,) ob sie hartnäckig oder sachlich sind. Egal(,) welche Farbe sie sich aussucht, sie wird immer gut aussehen.
Viele Publikationsorgane haben eigene Hausregeln zusammengestellt, damit wenigstens innerhalb der gleichen Blätter Ordnung herrscht und der Leser nicht durch unterschiedliche Schreibweisen der gleichen Wörter unnötig verwirrt wird.
Das Schreiben: Auslegeordnung strukturierter Gedanken
Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass beim Schreiben der wesentliche Prozess darin besteht, seine Gedanken zu ordnen und diese in einer vernünftigen Abfolge verständlich darzulegen. Wer nicht richtig (stringent) denken kann, wird auch nie gut schreiben können, Orthografiekurs-Besuche hin oder her. Bereits dieses Wiedergeben von Fakten und Gedanken ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, das den Schreiber bei komplexen Themen vollständig in Beschlag nimmt – und sogar in seinen Bann zieht. Der Schreibprozess führt deshalb auch immer zu neuen, unerwarteten Erkenntnissen, besonders wenn auch noch Gefühle, die als Sprungbretter im Hindernislauf des Denkens gelten, belebend wirken. Es bleibt bei diesem faszinierenden Vorgang dann nur noch wenig Spielraum, um sich gleichzeitig im Dickicht orthografischer Regeln zu orientieren.
Wenn ich zum Beispiel von einer Wanderung stromabwärts berichte, mich noch an die dort vorhandenen Pflanzen erinnern möchte und diese im Zusammenhang mit der Vogel- und Insektenwelt schildern will und gleichzeitig unsicher bin, ob es Strom abwärts oder stromabwärts heisst, muss ich mich auch noch an diese Regel erinnern: „ Mehrteilige Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen und Pronomen schreibt man zusammen, wenn die Wortart, die Wortform oder die Bedeutung der einzelnen Bestandteile nicht mehr deutlich erkennbar ist.“ So muss ich mich also aus der Landschaft mit all ihren Einzelheiten, die ich vor dem geistigen Auge habe, losreissen und wegen eines einzelnen Wortes in den orthografischen Urwald hinüberwechseln. Und dabei besteht dann die Gefahr durchaus, dass ich den Faden verliere. Am besten schreibt man drauflos und korrigiert das Hingeworfene in einem 2. Durchgang hinsichtlich Grammatik und Stil.
Durch die reformierten Reformen ist die Sprache etwas gummiartiger, formbarer geworden. Wer das Gefühl für eine mehr oder weniger fein modulierte Ausdrucksweise entwickelt hat – etwa bei häufigem Lesen –, kann sich innerhalb der neuen Regeln, die ohnehin keine Gesetzeskraft haben, hier besser entfalten.
So ist also aus dem ehemaligen reformerischen Schmarren, der in einen modulationsfähigen Brei umgewandelt worden ist, doch noch ein Mehrzweckwerkzeug entstanden, mit dem sich einigermassen gut leben und schreiben lässt.
Quelle
http://www.ids-mannheim.de/reform/regeln2006.pdf
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