Umwerfende Mistapfelschnitze
Auf einer leicht abfallenden Wiese oberhalb unseres Hausvorplatzes am Jurasüdhang steht auf dem Nachbargrundstück ein uralter, verwilderter Mistapfelbaum, Angehöriger einer aussterbenden Sorte. An seinem knorrigen Stamm und Geäst veranstalten Efeuranken ihre Kletterkünste, und allerlei Stauden wie Vogelbeere und Mehlbeere bilden ein ziemlich dichtes Unterholz. Alljährlich im Oktober drängen sich aus dem Gewirr dürrer und grüner Äste im Bereich der Baumkrone hellgelbe Kugeln hervor, die dort oben um den knappen Platz zu streiten scheinen. Viele der langsam wachsenden Biofrüchte werden zur Seite gedrückt, geraten aus der Verankerung und kullern direkt vor unsere Haustür. Der Weg zum Eingangsbereich ist rechtsdrehend nach Feng-Shui-Lehre angelegt, und das erklärt den hereinbrechenden Reichtum in Form von goldenen Äpfeln. Sie sind zuckersüsse, knackige Geschenke, in die ich gern hineinbeisse und mich dabei auch am Krachen freue.
Ältere Nachbarn haben mich schon vor Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass sich diese Äpfel besonders gut für die Zubereitung von Schnitzen eignen. Die naturverbundenen Leute hatten natürlich Recht; ich kann es aus reicher Erfahrung nur bestätigen.
So sammle ich gelegentlich einen Korb voll von diesen edlen Naturgaben, die gegen Ende Oktober fast bodendeckend zwischen dem Gras liegen und allmählich auch von Amseln entdeckt werden. Die tiefschwarzen Vögel picken mit ihrem orangegelben Schnabel in nervösen Bewegungen, einer Nähmaschine von damals ähnlich, so tief wie möglich ins saftige, kühle Fleisch bis ins Kerngehäuse und sichern sich laufend ab, ob nicht eine Katze im Begriffe sei, ihr Festmahl zu stören; der gelbe Augenring signalisiert Aufmerksamkeit. Die Zeremonie zieht sich jeweils bis in den Winter hinein. Auch unter dem Schnee holen die Amseln die braun gewordenen Früchte hervor. Es scheint, als ob für sie mürbe, matschige und angefaulte Äpfel besondere Delikatessen seien. Sie höhlen diese Hinterlassenschaften förmlich aus. Die Vorzüge der Haut (siehe unten) scheinen sie nicht zu kennen, was ich ihnen ausdrücklich zum Vorwurf mache.
Die Mistäpfel verdienen ihren despektierlichen Namen nicht, es sei denn, man betrachte Mist als etwas besonders Wertvolles. Auch im letzten Herbst habe ich einige Kilo von diesen verachteten Früchten aufgelesen, die zum Teil scheckig gewordenen Bälle geduscht und dem Rüstvorgang unterworfen. Das Fruchtfleisch ist fest, das Kerngehäuse nur schwach ausgebildet und Würmer, die immer auf mein besonderes Interesse stossen, sind kaum anzutreffen, obschon kein Mensch mit Giften herumgespritzt hat.
Ungespritzte Äpfel schäle ich selbstverständlich niemals (und gespritzte Äpfel kaufe ich grundsätzlich nicht, versteht sich). Denn das Beste steckt in der Schale oder direkt darunter, vor allem 70% der Vitamine (B und C), Mineralstoffe wie Eisen, Magnesium und Kalium, sodann ungesättigte Fette und auch sekundäre Pflanzenstoffe wie Polyphenole und Quercetin als Abwehrmittel, um die Pflanzen vor äusseren Einflüssen zu schützen; auch das jodhaltige Kerngehäuse ist besonders wertvoll. Schale und Gehäuse liefern auch Ballaststoffe zur Verdauungsanregung. Bei den versandtauglichen, lagerfähigen und trittfesten Neuzüchtungen ist die Schale meist so zäh, dass sie mit Spezialwerkzeugen entfernt werden muss.
Die Textatelier-Leser können sich nun vorstellen, wie das Bio-Apfelrüsten bei mir vor sich geht; es ist eigentlich bloss eine Zerkleinerung. Nur der Stiel und schadhafte Stellen werden entfernt, niemals aber Haut, Kerngehäuse und Kerne, welch letztere dem Gericht zudem eine schwach bittere Note geben. Die meisten Rezeptautoren schreiben üblicherweise: „Äpfel schälen, Kerngehäuse entfernen.“ Sie verwenden wahrscheinlich die falschen Äpfel (Chemieäpfel oder zähe Neuzüchtungen) oder aber haben keinen blassen Dunst von gesundheitlichen Zusammenhängen. Sie sollten den Beruf wechseln und die Leute nicht weiterhin irritieren.
Nach all dem gesundheitsbewussten Vorgehen erlaube ich mir dann, dem Wohlgeschmack zuliebe zu sündigen: Da werden Zucker und Butter über der Gasflamme erhitzt und leicht angebräunt, die Schnitze werden hineinbefördert, kurz umgerührt und dann mit frisch gepresstem Apfelsaft (oder Weisswein) begossen. Eine Bekannte mit österreichischen Wurzeln empfahl, die Apfelschnitze nur in erhitzter Butter, zu der Zitronensaft und Zimtpulver beigegeben wurde, zu wenden und dann abzulöschen.
Selbstverständlich brauche ich keine Waage und keinen Messbecher; alles geschieht aus dem Handgelenk heraus. Während des Köchelns finde ich Zeit zum Zerteilen und Beifügen einer in dünne Scheiben geschnittenen Bio-Zitrone (mit der ganzen Haut, selbstverständlich), 1 oder 2 Gewürznelken, eines Schusses Apfelessig und zum Bestreuen mit Zimt. Dann degustiere ich, wie wir grossen Köche das alle zu tun pflegen…, und wenn die Sauce noch nicht süss genug sein sollte, wird brauner Zucker beigefügt, eventuell noch ein Stück geschmackshebende Butter zwecks Abtragung der Schweizer Butteralpen. Dank der Haut zerfallen die Apfelstücklein nicht. Vor dem Servieren kommt noch diskret etwas Calvados oder Rum dazu, à discrétion. So stellt sich beim Essen immer eine besonders fröhliche Stimmung ein.
Das Festessen wird mit einer frisch zubereiteten Rösti komplettiert: Im Bio-Schweineschmalz (dieser gehört einfach dazu) reichlich Zwiebeln bräunen, geraffelte geschwellte Kartoffeln beifügen, salzen, ein paar Mal umdrehen und backen, bis goldene Krusten entstehen. Reichlich Innerschweizer Sbrinz-Käse (aus Milch von Braunvieh, das nur Gras oder Heu gegessen hat) darüber streuen. In breiten Tellern anrichten. Daneben die Apfelschnitze anrichten – inklusive genügend Sauce, damit diese Süssigkeit die Rösti unterspült.
Und jetzt finde ich die Worte kaum mehr – da müsste man Dichter von Format sein: Die Verbindung der salzig/käsigen Rösti mit dem Apfel-Zimt-Saft - das ist preisverdächtige Lyrik, die alle Dimensionen der Wollust umfasst, ein Gedicht. Mich übermannt regelmässig das Gefühl, noch nie in meinem Leben etwas solchermassen Delikates gegessen zu haben.
Man mag jetzt sagen, ich sei schon ziemlich bescheiden geworden. Das stimmt wohl. Aber es ist ja gerade das Einfache, das Grösse hat. Damit meine ich nicht mich, sondern die Apfelschnitze.
Walter Hess
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Die texPolyphenole werden in verschiedene einzelne Stoffklassen unterteilt. Sie bestehen meistens aus ringförmigen Molekülen, welche in der Lage sind, Elektronen leicht aufzunehmen. Zu den gesundheitsfördernden (Krebs vorbeugenden, den Kreislauf verbessernden und Cholesterin senkenden Polyphenolen gehören unter anderem die im Grüntee, in verschiedenen Teilen der Weinrebe (Blätter und Beerenhaut) oder in Olivenblättern enthaltenen wirksamen Substanzen, die so genannten Flavonoide. Auch die zahlreichen roten bis blauen Pflanzenfarbstoffe in Früchten und Blüten, die Anthocyane, gehören zu dieser Stoffgruppe .