Nicht nur für Büebli, sondern auch für Maiteli und Erwachsene aller Kategorien sind sie in allen Lebenslagen ein Gesundbrunnen: die Rüebli. Der orangefarbene Farbstoff der Karotten, das Beta-Carotin (Ausgangsmaterial der Vitamin-A-Bildung), stärkt u.a. die Augen und damit das Sehvermögen. Dieses Carotin macht zusammen mit vielen anderen Vitaminen, Nähr- [1] und Faserstoffen die Rüebli zu einem Kraftpaket, das seinesgleichen sucht, besonders wenn sie das Vergnügen hatten, in einem sandigen Bioboden heranzuwachsen. In Schulpausen, als Zwischenverpflegung während der Arbeit oder bei Ausflügen usf. setzt das Rüebli Massstäbe hinsichtlich Gesundheitswert und Bekömmlichkeit.
Seine grössten Vorzüge entfaltet dieser unübertreffliche „Naturriegel“, wenn er roh gegessen wird, als Zwischenverpflegung vielleicht zu einem Stück Vollkornbutterbrot; ein bisschen Fett verbessert die Vitamin-A-Aufnahme. Man kann die Rüebli gut waschen, mit einem Rüstmesser zurückhaltend etwas von der Schale abkratzen und schadhafte Stellen schabend entfernen. Man muss da nicht zu zimperlich sein [2].
Es gibt über 100 Rüeblisorten , die sich durch Grösse, Form, Farbe (von Weiss, Gelb, Rot und Violett sowie Schwarz) und Geschmack unterscheiden. Unsere altbekannten Rüebli sind Zuchtformen der wilden Karotte, die wahrscheinlich zu den frühesten Lebensmitteln der Menschen gehörte. Und zusammen mit den praktisch unbegrenzten Anwendungsmöglichkeiten in der Küche ermöglicht die Vielfalt an Eigenschaften der unterschiedlichen Rüebli-Gestalten eine unermessliche Kombinationsfülle: Als Beilagen zu Dips, Suppen, Salaten, Eintöpfen sowie für Souflées, Kuchen, Konfitüre usf. Sie liefern Farbtupfer. Auch das frische Kraut kann für Suppen, Salate und Saucen verwendet werden.
Rüebli sind leicht süss. Es gibt aber auch herbere Sorten wie die Pfälzer und Küttiger (Chüttiger) Rüebli. Die letztere Variante aus der Aarauer Nachbargemeinde Küttigen mit der stolzen lateinischen Bezeichnung Daucus carota L. subsp. sativus (Hoffm.) Schübl. et Mart. ist gewissermassen die Rüebli-Urform, gelblich-elfenbeinfarbig und betont kegelförmig. Das Chüttiger Rüebli ist eine alte Sorte, die vom Küttiger Landfrauenverein seit 1978 liebevoll gehegt und gepflegt wird. Es hat einen intensiven typischen, ursprünglichen Rüebli-Geschmack, weshalb ich diese robuste, alte Landsorte wieder einmal nach einem überlieferten Rezept zubereitet habe:
Etwa 1 kg Chüttiger Rüebli werden gewaschen, geschabt und in Schiefel umgewandelt, das heisst man schneidet mit einem Rüstmesser längliche, unförmige Schnitze heraus, wie sie früher in etwas kleinerem Format beim Bleistiftspitzen angefallen sind. In einem Topf wird dann etwas hitzebeständiges Öl wie Traubenkernöl erwärmt. Darin lässt man je eine manuell zerhackte Zwiebel und Knoblauchzehe glasig werden. Jetzt werden die Rüeblischiefel beigefügt und angedämpft. Man löscht mit 1 bis 2 dl Wasser ab; die Rüeblispäne sollen etwa zur Hälfte bedeckt sein. Salz und Pfeffer gehören ebenfalls dazu; wer will, kann etwas Streuwürze oder Gemüsebrühe beifügen. Wer es leicht süss haben möchte, greife in den Honigtopf. Die Kochdauer beträgt etwa eine halbe Stunde, mit Speck etwas mehr.
Im Originalrezept steht, man solle noch 1 Pfund grünen Speck (nicht geräucherten Speck aus dem Salz) darunter legen; es ist eine Einstellungssache, ob man diesen Teil des Rezeptes vollziehen will; aber der Hinweis darauf gehört zur Vollständigkeit. Wer einen Eintopf erhalten will, kann noch einige kleine Kartoffeln mitkochen.
Viele alte Rezepte sind nahrhaft, sättigend. Diese Eigenschaften rechtfertigen sich aus dem ehemals harten Alltag mit seinen vielen körperlichen Anstrengungen. Und heute könnte man ja auch, statt Kalorienzahlen zu reduzieren, den Kalorienverbrauch steigern, um traditionelle Gerichte herzhaft geniessen zu können. Viele Leute erkennen das als sinnvollere Lösung als die Zuflucht zum kalorienreduzierten Industrie-, Functional- [3] oder sogar Novel-Food [4]. Die neuen High-Tech-Nahrungsmittel sind Konstrukte aus dem Food Design.
Die verzweifelte Rückkehr zu Grossmutters Küche erklärt sich daraus ohne weiteres…
Walter Hess
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[1] Als wichtige Nährstoffe im Rüebli sind auch Natrium, Kalium, Kalzium, Phosphor, Eisen und Vitamine B 1 , B 2 , Niacin und C zu erwähnen.
[2] Wenn man einmal eine Spur guter Gartenerde zwischen die Zähne erhalten sollte, wäre das belanglos, so lange die Zähne nicht mechanisch darunter leiden. Organische humose Stoffe, Verwitterungsbestandteile bis hin zu Spuren von Seltenen Erden schaden nicht. Im südlichen Afrika werden oft etwas Erde, Wurzeln und Blätter gegessen, um überhaupt etwas im Magen zu haben.
[3] Als Functional Food (übersetzt: Funktionelle Nahrung) bezeichnet man fabrikmässig hergestellte Nahrung, die mit Zusatzstoffen (wie Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen, Ölen, probiotischen Bakterien usf.) angereichert worden sind und die einen gesundheitlichen Nutzen haben sollen. Doch damit ist das in herkömmlichen Naturprodukten vorhandene Gleichgewicht gestört.
[4] Beim industriell erzeugten Novel Food (übersetzt: Neuartige Nahrung) wird die Erfüllung von Kriterien wie z.B. vollmundiger Geschmack bei gleichzeitiger Fettreduktion, erhöhter Vitamingehalt oder ernährungsphysiologisch günstigeres Fettsäuremuster angestrebt. Das sind komplexe Eigenschaften, die durch das Zusammenwirken zahlreicher Gene entstehen. Die damit zusammenhängenden gentechnischen Veränderungen stossen derzeit noch an die Grenzen der Technik in Tier- und Pflanzengenetik und werden von den meisten Konsumenten nicht akzeptiert. Die Arbeit an transgenen Pflanzen der 2. Generation läuft dennoch auf Hochtouren.