Sind die Kohlenhydrate als Dickmacher zu betrachten?
S.B., CH-5001 Aarau
Antwort: Die Kohlenhydrate (auch: Kohlehydrate) gehören neben Eiweiss und Fett zu den wichtigsten Nährstoffen des Menschen. Er bezieht sie aus den in den Pflanzen enthaltenen Energie-Reservestoffen (Stärke) und Gerüstsubstanzen (Zellulose in den Pflanzenwänden). Sie bestehen aus Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) mit der einfachsten chemischen Formel CnH2nOn. Zu ihnen gehören die verschiedenen Zuckerarten (Einfach-, Zweifach- und Mehrfachzucker). Zu den Mehr- oder Vielfachzuckern (Polysaccariden) zählen Stärke, Glykogen, Zellulose und Pektin, somit also auch die darmaktivierenden Faserstoffe (fälschlicherweise oft abschätzig als "Ballaststoffe" bezeichnet).
Die Kohlenhydrate liefern 45 bis 60% der Gesamtenergiemenge, eine Zahl, die selbstverständlich je nach Ernährungsweise schwankt. In der so genannten Vollwerternährung werden kohlenhydratreiche Lebensmittel [1] wie Getreide, Gemüse und Kartoffeln bevorzugt, und damit ist auch eine ausreichende Versorgung mit Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen weitgehend gewährleistet. Demgegenüber sind industriell verarbeitete, von vielen wichtigen Bestandteilen "gereinigte" Nahrungsmittel (im Unterschied zu Lebensmitteln) mehr oder weniger leere Kalorienlieferanten, die beim Abbau zu Einfachzuckern gerade noch Vitamin B1 (Thiamin) verzehren, ohne solches mitzuliefern, und damit entsprechende Defizite erzeugen.
Die Verdauung der Kohlenhydrate beginnt gewissermassen schon beim Kochen, spätestens aber im Mund. Denn im Speichel des Menschen ist ein Enzym (Amylase) enthalten, das Stärke und Glykogen in kleinere Bausteine zerlegt. Damit wird auch die Bedeutung des Kauens begründet. Die Amylase wirkt im Magen weiter, bis sie durch die Magensäure zerstört ist. Dafür geben nun Bauchspeicheldrüse und Darmschleimhaut weitere Verdauungsenzyme ab, so dass am Ende die Kohlenhydrate als Monosaccharid Traubenzucker (Glukose), unserem Treibstoff, vorhanden sind. Der Traubenzucker kann als Glykogen in der Leber und in Muskeln gespeichert werden (Leberstärke), ein schnell mobilisierbares Reservekohlenhydrat.
Das Glykogen erfüllt im tierischen und menschlichen Organismus ähnliche Funktionen wie die Stärke in Pflanzenzellen, weshalb es manchmal als "tierische Stärke" bezeichnet wird. Wenn dem Körper wegen Insulinmangels [2] die Fähigkeit verloren geht, aus dem Blut-Traubenzucker Glykogen aufzubauen, liegt die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) vor, eine Stoffwechselstörung, die mit zunehmendem Vormarsch der verarbeiteten und manipulierten Industriekost zugenommen hat. Noch kurz nach dem 2. Weltkrieg waren Diabetiker höchst selten; mit Vererbung kann die Zuckerkrankheit also nicht allzu viel zu tun haben.
Es wäre grundfalsch, die Bedeutung der Kohlenhydrate für einen normal funktionierenden Körper zu unterschätzen. Denn sie sind die effektivste Energiequelle für die Muskeln und auch für Gehirn-, Blut- und Nervenzellen. Selbst für viele Stoffwechselvorgänge sind sie von Bedeutung. Sind sie aufgebraucht, greift der Körper auf Eiweisse und Fette zurück, damit er sich weiter bewegen und funktionieren kann.
Erst auf diesem Hintergrund kann Ihre Frage angegangen werden: Machen Kohlenhydrate dick? Eine einfache, klare Antwort ist unmöglich. Sie machen dann nicht dick, wenn sie beispielsweise in Form von Rohkost eingenommen werden, die viele Begleitstoffe und auch unverdauliche, aber verdauungsfördernde Faserstoffe enthält. Tiere, die sich naturgemäss vegetarisch ernähren, sind nie übergewichtig. Ist aber die Nahrung verarbeitet, konzentriert und gleichzeitig arm an wertgebenden Inhaltsstoffen und ist der Kalorienverbrauch zu gering, ist eine Gewichtszunahme unvermeidlich. In der Tiermast ist eine solche meistens erwünscht, bei Menschen weniger, abgesehen von Untergewichtigen.
Die leistungsfähigsten Dickmacher sind Kohlenhydrate, die zu einem raschen Anstieg des Blutzuckerspiegels führen (und also einen hohen glykämischen Index haben): Industriezucker, Weissbrot, andere Nahrungsmittel aus Weissmehl, weisser Reis und Bier. Aber in ihrer diesbezüglichen Wirkungsweise stehen sie zweifellos deutlich hinter den Fetten zurück. Alles in allem: Nicht die Körperwaage sollte das Menü bestimmen, sondern das Gehirn.
Der Schlankheitswahn und Diätenwahn können ebenso verheerende Folgen wie Übergewicht zeitigen. Mit dieser Feststellung bin ich in der guten Gesellschaft von Kräuterpfarrer Johann Künzle, der 1945 im Alter von 87 Jahren starb. Er schrieb in seinem "Grossen Kräuter-Heilbuch": "Einmal mehr sei bei dieser Gelegenheit vor Entfettungskuren aus Modetorheit gewarnt. Jedem Menschen, jeder Konstitution ist bei ihren festen Lebensgewohnheiten eine bestimmte 'Fettpolsterung' gemäss. Sie gewaltsam vermindern, ohne die entsprechenden Gewohnheiten ändern zu können, ist also ein Eingriff in einen Vorgang der natürlichen Anpassung und kann nicht ohne Schaden für Gesundheit und Wohlbefinden bleiben."
Selbstverständlich ist es schwer zu sagen, welches denn das individuell richtige Gewicht sei. Es gibt schematische Formeln und Body-Masse noch und noch, geschaffen für einen degenerierten Zeitgeist, der glaubt, alles auf ein paar Zahlen reduzieren zu können. Früher sagte man, ein Mensch solle so viele Kilos wiegen, wie er Zentimeter über 1 m misst, wobei Schwankungen um etwa 5 kg nach unten oder ober toleriert wurden. Denn das angemessene Gewicht kann nur aufgrund der individuellen Konstitution einigermassen erahnt werden. Wer beweglich ist, sich wohl fühlt und gesund bleibt, der kann nicht weit davon entfernt sein.
Fazit: Haben Sie keine Angst vor Kohlenhydraten! Diese dürfen sein, auch in Form eines Tellers Spaghetti; Kohlenhydrate haben ihre wichtige Aufgabe zu erfüllen. Achten Sie aber auf eine breite Ernährungspalette aus viel unverarbeiteten oder wenig verarbeiteten Lebensmitteln und nehmen Sie Bewegungsmöglichkeiten im Alltag wahr. Beobachten Sie Ihr Empfinden in den verschiedenen Lebenslagen im Zusammenhang mit Ihrer Ernährungsweise und ziehen Sie aufgrund des Ernährungswissens die für Sie persönlich zweckmässigen Schlüsse. Offensichtlich bemühen Sie sich um solche Kenntnisse, deren Vermittlung zum Zusatzangebot des Textateliers gehört und die auch aus einer umfangreichen Literatur bezogen werden können.
Einseitige, eingeschränkte Betrachtungsweisen führen immer zu falschen Massnahmen. Auf ein paar Pfunde mehr oder weniger kommt es meistens nicht an. Nur unselbstständige Naturen laufen im Rahmen der kollektiven Infantilisierung gedankenlos irgendwelchen Mode-Diktaten hinterher. Es ist wichtig, dass Sie genügend Nährstoffe erhalten und sagen können: Ich fühle mich gut und gesund mit dem Gewicht, das zu mir und nicht vor allem zu einem Body-Mass-Index passt.
W.H.
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[1] Der Kohlenhydratgehalt der Lebensmittel beträgt beim weissen Industriezucker zirka 100%, bei Honig zirka 80%, bei Getreide 60 bis 70%, bei Kartoffeln etwa 20%, bei Gemüse 2 bis 10%, bei Obst rund 10%, Milch 5 % usf.
[2] Das Insulin ist ein Bauchspeicheldrüsenhormon.
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