Mich beschäftigt Ihre Antwort zum Thema "Wie hitzebeständig sind Vitamine?" Das dort verbreitete Wissen tönt etwas vage. Da scheinen viele Wissenslücken vorhanden zu sein. Möchten Sie nicht einmal versuchen, dieses "Küchen-Temperatur-Thema" etwas gezielter anzugehen, wenn man schon von so wichtigen lebenserhaltenden Nahrungsmitteln spricht.
W.L., 4142 Münchenstein
Antwort: Ihre Kritik ist vollkommen berechtigt, und dennoch bin ich nicht am Boden zermürbt wie die Brombeeren im Konfitürenglas nach dem Einkochen und dem hitzebedingten Vitaminverlust. Denn es ist beim Kochen von frischen Naturprodukten genau wie bei allen anderen Eingriffen ins biologische (im Sinne von lebendige) Gefüge: Man kennt die Abläufe im Detail nicht. Die Natur entzieht sich weitgehend unserer aufs Zählbare, Messbare und Wiederholbare ausgerichteten Wissenschaftlichkeit: Man kann durchaus feststellen, wie viel an Umfang ein Nussbaumstamm an einer bestimmten Lage pro Jahr im Durchschnitt zulegt und wie viele Milligramme Vitamin C sich in einem bestimmten Apfel befinden, aber welche Erdschwingungen besagter Baum aufnimmt, wie er damit umgeht und weshalb ihm die Partnerschaft mit Efeuranken behagt, entzieht sich unserer Forschung, unseren beschränkten Erkenntnismöglichkeiten. Wir können bestenfalls Vermutungen anstellen.
Und was passiert denn wirklich, wenn wir das Vitamin C aus dem Apfel zusammen mit den übrigen Apfelinhaltsstoffen wie den anderen Säuren, wie den Mineralien, den Enzymen, Phytoöstrogenen, Farbstoffen, eventuell noch mit Spritzmittelrückständen und in Begleitung von Industriezucker, Zimtstangen sowie vielleicht noch einer Nelke auf einem bestimmten Energieträger Gaswärme wirkt sich anders als Mikrowellen aus in einer bestimmten Pfanne kochen? Hitze beschleunigt chemische Prozesse. Aber was dabei herauskommt, wissen wir schon gar nicht. Und was ist denn das ein Apfel? Neuzüchtungen sind nicht mit alten Sorten identisch, und diese alten Sorten sind unter sich wieder Individuen. Die Inhaltsstoffe sind unterschiedlich. Alles in allem treten hundertfache Wechselwirkungen auf.
Man könnte sein soeben zubereitetes Apfelkompott in aufwendigen Analyseverfahren in seine Bestandteile zerlegen; doch Nutzen-Aufwand-Überlegungen verbieten dies, weil die ermittelten Resultate nur gerade für das eine betreffende Kompott gelten würden und Verallgemeinerungen unzulässig wären. Und wenn wir uns dieses Kompott einverleibt haben, wissen wir schon gar nicht mehr, was dort drinnen passiert; denn wir stopfen ja ein unglaubliches Mischmasch in unsere Verdauungsapparatur. Unter das Apfelkompott mischen sich da möglicherweise noch Rösti sowie je eine halbe Blut- und Leberwurst, was dann noch mit einer Tasse Kaffee mit Up-Rahm begossen wird.
Wir haben im erwähnten Ratgeber-Text, den Sie angesprochen haben, auf die unterschiedliche Hitzebeständigkeit der einzelnen Vitamine hingewiesen. Aus der dort publizierten Tabelle ergibt sich automatisch, dass bei zunehmender Hitze die Vitaminverluste ansteigen, was selbstredend auch auf die Erhitzungsdauer zutrifft. Sie mögen das als Allgemeinplätze taxieren. Wohlan!
Aber dieses Wissen genügt als Schlüssel zum richtigen Umgang mit gewachsenen Naturprodukten: Man soll sie möglichst frisch und roh essen, möglichst nicht in einzelne Bestandteile zerlegen; in diesem Falle ist auch die Bioverfügbarkeit der darin enthaltenen Wirkstoffe am grössten. Dann stimmt das Umfeld; dann stimmt alles. Wenn das nicht möglich ist, etwa bei Kartoffeln, Hülsenfrüchten oder weil man nicht den gesamten Früchtesegen aufs Mal verzehren kann, sollte man folgerichtig möglichst schonende Koch-, Lager-, Konservierungs- oder Einmachmethoden wählen. Da die Lagerung von Zerfallsprozessen begleitet ist, müssen die Abbauvorgänge mit schonenden Methoden wie dem Trocknen, Tiefkühlen, Einlegen in Essig, Salzen oder mikrobiologischer Fermentation usf. verlangsamt oder unterbunden werden. Auch wenn wir im Interesse des Genusswertes technologisch eingreifen, sollten wir die Beschädigungsgefahren zu minimieren suchen.
Man könnte jahrzehntelang forschen und ein 1000-seitiges Buch darüber schreiben, was mit dem Vitamin B5 passiert, wenn es innerhalb von Erdnüssen den Röstprozess über sich ergehen lassen muss oder wenn es als Öl aus dem Gefüge der Sonnenblumenkerne in eine Flasche gelangt ist. Man käme immer zum gleichen Resultat: Die Naturbelassenheit obsiegt, die Naturnähe ist der Naturferne vorzuziehen. Wenn Sie das auch auf das Krankenwesen und den Lebensstil insgesamt übertragen wollen, stimmt das immer noch. Im Ernährungsbereich kann man solche Erkenntnisse durchaus auch auf die Light-Welle und das angereicherte Industriefutter (den Chemiecocktail namens Functional Food) ausdehnen.
Wo immer wir daran gehen, in einem kunstvollen Gefüge herumzubasteln oder es gar zu zerlegen, wird das zur Demontage. Wenigstens diesbezüglich haben wir es zu einer wahren Meisterschaft gebracht.
wh.
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