Man liest immer wieder, Zierblumen, Stauden und Sträucher müssten im Herbst zurückgeschnitten werden? Ich habe dabei jeweils ein ungutes Gefühl. Sogar in Bezug auf die Pfingstrosen habe ich diesen Ratschlag kürzlich gelesen. Was ist davon zu halten?
M. B., CH-5600 Lenzburg
Das herbstliche Abräumen von verblühten Pflanzen und Sträuchern nach Gartenratgeber-Empfehlung wird offenbar als lustvoll empfunden. Doch dadurch bringt man sich gelegentlich auch um den Genuss von attraktiven Herbstfarben. Gerade bei der von Ihnen erwähnten Pfingstrose (Paeonia, ein Hahnenfussgewächs) ist das Herbstlaub oft von einem grossen Dekorationswert, weil es eine feuerrote Farbe annimmt. Zudem spalten sich die Samenschoten und bringen schwarze und rote (unfruchtbare) Samen zum Vorschein, die ihren eigenen ästhetischen Reiz entfalten. Im November-Tau oder unter einer dünnen Schneedecke erhalten die Pflanzen einen neuen malerischen Zauber, ein neuer Reichtum an Gestalt und eine Offenbarung von Überlebenswillen. Und viele Vögel schätzen es, wenn sie hier noch einige Samenkörner finden können. Pflanzen, die im Winter unter der Schneelast in sich zusammenbrechen, geben ihrem Wurzelbereich einen zusätzlichen Winterschutz. Auch kleine Tiere können im Staudendickicht etwas Schutz finden.
Die Pfingstrose stammt aus dem Kaukasus, und ich habe noch nie gehört, dass in jener gebirgigen Gegend jeweils im Herbst "Pfleger" ausgesandt werden, um alle oberirdischen Pflanzenteile niederzumähen und dennoch haben die Pfingstrosen überlebt. Vielleicht gerade deshalb.
Pfingstrosen, von denen zahlreiche Zuchtsorten wie die Edelpfingstrose (Paeonia lactiflora) existieren, gibt es als Stauden, Sträucher und sogar als baumartige Pflanzen in Rot, Rosa und Weiss. Sie schätzen es, wenn man sie möglichst in Ruhe lässt und man sich einfach an ihren gartengestalterischen Paukenschlägen freut und das nicht nur während der Blütezeit im Frühjahr. Auch eine verblühte Pflanze kann reizvoll und ein bereichernder Anblick sein, genau wie ein betagter Mensch mit zerfurchtem Gesicht und gütiger Ausstrahlung. Das Verpflanzen schätzen die Pfingstrosen gar nicht; sie können jahrzehntelang an ihrem angestammten Platz verweilen.
Gärten sind Indizien; sie offenbaren das Innenleben und das Naturverständnis der Menschen, die sie gestalten, ausräumen, Naturregungen rücksichtslos bekämpfen, im Stil der ehemals staatlich geförderten Landschaftsausräumungen, oder im besseren Fall sogar etwas gewähren lassen. Die Philosophie des Gärtners wird am Zustand der Anlage auf den ersten Blick offenbar: Aufgeräumt und ausgeräumt oder vielfältig und von Leben erfüllt, von einfühlsamer Hand etwas gelenkt auch das gibt es zum guten Glück.
Pflanzen sind empfindsame Wesen; es ist bedauerlich, dass wir ihr verzweifeltes Schreien nicht hören können, wenn sich ein mit schwerem Schneidewerkzeug bewaffneter Vandalisten- oder Todestrupp in ihrem Lebensraum ans "Pflegewerk" macht und nach menschlichen Massstäben eine Naturoase in eine ordentliche Wüste verwandelt. Die Scheren sind schärfer geworden und unsere Sinne stumpfer.
wh.
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