Eine Verwandte von mir hat erfahren, Gelenkschmerzen im Achselbereich könne man zum Verschwinden bringen, wenn man ein Stücklein Hanfschnur anzünde, glimmen lasse und den Rauch einatme. Sie mache dies manchmal abends und schlafe dann ohne Schmerzen sehr gut.
N.O., CH-7500 St. Moritz
Antwort: Der Hanf (Cannabis sativa) gehört zu den ältesten Kulturpflanzen, und die Palette seiner Anwendungsmöglichkeiten ist unendlich. Dieser Kultur- und Faserhanf, ein Hanfdampf in allen Gassen sozusagen, kann zu Textilien, Schnüren, Seilen, Papier (die Gutenberg-Bibel ist darauf gedruckt), Isolationsmaterialien, Dichtungsmittel bei Rohrverbindungen, Zusatz zu Baumaterialien, Autokarosserien, Brennstoff, Tee (aus den Blättern), Nahrungsmitteln, Speiseöl (Hanfsamenöl[1]), Vogelfutter, Bodenverbesserern, Pflegemitteln, Heilmitteln, Drogen usf. verwendet werden. Für Drogen eignet sich allerdings der Abkömmling Cannabis indica (Indischer Hanf, Ganjah); für die Hindus ist der Hanf (Bhang) heilig; er gilt als Freudenspender und Aphrodisiakum und wird als Zaubermittel im Tantrismus benützt. Der Tantrismus ist der erotische Geheimkult des alten Indien. Auch in den Märchen "1001 Nacht" wird von den liebesfördernden Wirkungen berichtet; Warner haben demgegenüber die Auffassung vertreten, Cannabis mache impotent.
Statt den Umgang mit dieser vielseitig verwendbaren Pflanze zu lehren (Erfahrungswissen ist seit Jahrtausenden in Fülle vorhanden) und sie vernünftig zu nutzen, wurde sie kriminalisiert, vor allem auch, weil sie bezüglich Wirksamkeit und Nebenwirkungsarmut den chemischen Medikamenten den Rang ablief. Die mächtige Lobby der Hanffeinde erreichte, was sie wollte, fast überall auf der Welt. In gleicher Richtung wirkte auch die Einführung von Kaffee und Tabak als teure legale Drogen, wodurch der wohlfeile und ausserordentlich ertragreiche Hanf zu einem Kraut für die Armen degradiert wurde. Dennoch war es zu den Zeiten von Jeremias Gotthelf im Emmental üblich, Hanf-Tabakmischungen in die Pfeife zu stopfen, insbesondere an Sonn- und allgemeinen Feiertagen; man sagte ihnen "Sonntags-Pfeifen". Im 17. Jahrhundert gab es in Amerika eine gesetzlich verordnete Anbaupflicht für diese unentbehrliche Nutzpflanze. Hanf kann überall dort angebaut werden, wo auch Weizen gedeiht.
Noch vor rund 100 Jahren lieferte die Hanfpflanze die Ausgangsstoffe für zahlreiche Medikamente. Den Hanf als Schmerzmittel kannte schon der römische Historiker und Schriftsteller Plinius der Ältere (Gajus Plinius Secundus, 24-79): "Die in Wasser gekochte Wurzel erleichtert Krämpfe der Gelenke, auch Gicht und ähnlich heftige Schmerzen." Die schmerzstillende Wirkung ist einwandfrei erwiesen; sie war auch Hildegard von Bingen (10981179) und Paracelsus (14931541) bekannt.
Die Pflanze musste im vergangenen Jahrhundert auf behördliches Geheiss kastriert werden; das heisst die berauschenden Inhaltsstoffe wurden so weit als möglich weggezüchtet. In der EU und der Schweiz dürfen nur noch 12 züchterisch übel zugerichtete Hybrid-Hanfsorten angebaut werden, deren THC-Gehalt (das hauptsächlich im Harz[2] der weiblichen Blüten und in den Blättern vorkommende Delta-9-Tetrahydrocannabinol[3]) im oberen Blattdrittel nicht mehr als 0,3% beträgt. Die gesamte Pflanze enthält das THC nicht etwa, um in einem ständigen Zustand der Betäubung zu sein..., sondern zur Abwehr von Schadinsekten und Pilzerkrankungen.
Soweit einige verkürzte Ausführungen zum Hanf-Umfeld, die auch ein Streiflicht auf die gesellschaftliche Degeneration wirft, welche auch die Ursache dafür ist, dass in dieser aufgeklärten Zeit unendlich viel Mühe darauf verwendet werden muss, die Hanf-Verteufelung endlich wieder zu überwinden. Es ist noch nicht gelungen.
In Kenntnis solcher Zusammenhänge ist Ihre Frage einfacher zu beantworten: Hanfseile und Hanfschnüre werden seit Jahrhunderten aus den Stengelfasern dieser Pflanze gewonnen. Diese Seile hatten das Glück, nicht ins Visier der Sittenwächter zu geraten und entgingen der Strangulation durch die Gesetzgebung. Sie sind dementsprechend kein Ziel der unermüdlichen Hanfjäger, die manchmal nicht einmal ein Cannabisblatt dulden, das auf ein T-Shirt gedruckt ist. So kann man auch überall Hanfschnüre kaufen. Sie sind wohl kaum zur Herbeiführung von Rauschzuständen geeignet, wenn man sie raucht, statt damit Pakete zu binden. Allerdings kann man heute keine verschnürten Pakete mehr zur Post bringen, weil sie sich mit den Sortier- und Beförderungsmaschinen verhaspeln würden; da sind Einweg-Klebebänder aus Kunststoffen gefragt.
So bleibt also nur noch die Lösung, die beinahe überflüssig gewordenen Schnüre anzuzünden und den Rauch schmerzlindernd zu inhalieren, wie das Ihre Verwandte tut... Selbstverständlich werden diese Schnüre aus dem von THC "gereinigten" Hanf hergestellt; doch es ist möglich, dass neben anderen Wirkstoffen dennoch minime THC-Spuren darin enthalten sind, die Ihrer Verwandten ein befreiendes und beruhigendes Gefühl vermitteln. Ich kann mir zwar fast nicht vorstellen, dass das funktioniert. Aber vielleicht hat sie das Glück, dass ihre Schnüre aus einer THC-reicheren Hanfsorte hergestellt sind.
Es liegt mir keineswegs daran, zum Inhalieren von Hanfschnurrauch zu raten; denn auch in diesem Rauch gibt es schädliche (auch krebserregende) Substanzen, wahrscheinlich etwa zwei- bis viermal mehr als im Tabakrauch. Aber wenn dieses Inhalieren jemand gut tut, es mit der gebotenen Zurückhaltung vorgenommen wird und damit chemische Medikamente ersetzt werden können, sehe ich keinen Grund, davor zu warnen.
Es ist immer und überall so: Wer oder was heilt, hat Recht.
Walter Hess
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[1] Hanfsamenöl kann Neurodermitis-Beschwerden lindern (2 bis 3 Esslöffel pro Tag einnehmen; es kann auch auf die Haut aufgetragen werden).
[2] Das zu kleinen Platten gepresste Harz nennt man Haschisch.
[3] Der psychoaktive Wirkstoff THC wirkt je nach Dosierung muskelentspannend, antiepileptisch, stimmungsaufhellend, brechreizhemmend, appetitfördernd, antibiotisch, fiebersenkend, augeninnendrucksenkend, bronchienerweiternd, beruhigend und schmerzlindernd. Dieses Cannabinoid kann auch künstlich hergestellt werden, das angeblich psychedelischer wirkt.
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