Kürzlich sah ich anlässlich eines Apothekenbesuchs zum erstenmal ein neues Voltaren-Produkt: Voltaren Dolo® (Tabletten mit 12,5 statt 25, 50 oder 100 mg Wirkstoff). Das neue Produkt wird rezeptfrei verkauft, "da ja die Dosierung so niedrig" sei, wie mir versichert wurde. Aber da mich keine ärztliche Kontrolle daran hindert, kann ich ja solche Pillen massenhaft schlucken und dabei auch beliebig hohe Wirkstoffdosen zu mir nehmen. Wie finden Sie das? Ich finde es "dr Gipfel" der Kommerzialisierung des Medikamentenmarktes durch die Pharmalobby.
Übrigens habe ich jetzt festgestellt, dass Aspirin ebenso schmerz- und entzündungshemmend wirkt wie Voltaren und sicher harmloser ist. Diese Voltaren-Manie ist einfach eine Mode, die dank einer aggressiven Werbung, bei der auch die Apotheken wacker mitmachen, besonders in der Region Basel grassiert.
L.F., CH-4144 Arlesheim
Antwort: Ihre Anfrage, die eigentlich alles Nötige bereits selber aussagt, kam am 11. Mai 2002 zufälligerweise mit demselben E-Post-Schub wie ein Newsletter von www.cannabis-med.org beim Textatelier herein. Im erwähnten Nachrichtenbrief steht zu lesen, die US-Behörden hätten sich geweigert, Kanada den Zugang zu Cannabissamen zu gewähren, wie gerade bekannt geworden sei. Das habe dazu geführt, dass das kanadische Gesundheitsministerium Samen verwenden musste, den die Polizei konfisziert hatte. Daraus wurden mindestens 185 verschiedene Cannabis-Sorten hergestellt. Es wird nun einige Zeit dauern, um einen Vorrat an standardisiertem Cannabis zu bilden, der für Forschungszwecke geeignet ist.
Ein kanadischer Parlamentsausschuss soll zur Erkenntnis gekommen sein, Cannabis habe nur geringe negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Aufgrund der Ergebnisse einer 14-monatigen Studie erklärte der Ausschuss, die wissenschaftliche Datenlage weise darauf hin, dass Marihuana "einige negative Wirkungen auf die menschliche Gesundheit haben kann", dass diese Wirkungen jedoch "relativ gutartig" seien. Zudem kam er zur Erkenntnis, dass es sich nicht um eine Einstiegsdroge zum Konsum harter Drogen handle. Nur etwa 10% der Konsumenten würden zu gewohnheitsmässigen Konsumenten von Marihuana und 5 bis 10% würden davon abhängig.
Wir haben diese Zitate vorangestellt, um darzutun, dass mit ungleich langen Ellen gemessen wird: Cannabis wäre ein beinahe ideal zu nennendes Schmerzmittel; aber die Pharmalobby weiss das zu verhindern. Dass die USA im Schlepptau der Pharmaindustrie die Interessen dieses riesigen Wirtschaftszweiges über jene der kranken Menschen stellen, ergibt sich schon daraus, dass dieses Land die weltweit grösste und einflussreichste Pharmabranche hat. Diese vergrössert ihren Einflussbereich und ihre Absatzmärkte ständig. Die Schweiz ihrerseits ist das Land mit dem grössten Exportvolumen pharmazeutischer Produkte. Die USA lagen 1999 mit einem Pharma-Exportüberschuss von umgerechnet rund 2 Mrd. CHF an 8. Stelle der weltweiten Rangliste.
Eine treibende Kraft ist in der Pharmaforschung im Moment die Gentechnologie, die sich in Windeseile ins Medikamentengeschäft hinein verbreitet. Expertenschätzungen gehen dahin, dass bis etwa 2020 kaum noch ein Medikament auf dem Markt sein soll, das nicht mit Hilfe der Gentechnik produziert wird. Das bedeutet mit anderen Worten, dass alle Naturheilmittel (inklusive Hanfprodukte zu Heilzwecken) aus dem Markt geworfen werden müssen und von Neuzulassungen schon gar keine Spur. In Bezug auf ein rücksichtsloses gentechnisches Draufgängertum und Marketing sind die Amerikaner den verantwortungsbewussteren und zurückhaltenderen Europäern ohnehin um Meilen voraus; leider sind wir am Ende jeweils zum Mitlaufen bereit.
Jetzt aber zur Voltaren-dolo-Frage, die Sie gestellt haben: Die Novartis-Tabletten mit der geringeren Dosierung des Wirkstoffs Diclofenac zwingen schmerzgeplagte Konsumenten, Tabletten in Serie zu schlucken, um schmerzfrei zu bleiben. 1 Tablette soll Schmerzfreiheit für 6 Stunden garantieren. Begrüssenswert wäre es, wenn damit die tägliche Wirkstoffmenge tatsächlich verringert werden könnte, wie das die Patienteninformation mitteilt. Das würde auch bedeuten, dass bisher zu viel Wirkstoff konsumiert wurde. Jedenfalls macht für einmal nicht die Dosis der einzelnen Tablette das Gift (im Sinne von Paracelsus, 1427), sondern die Tablettenmenge mal deren Giftgehalt. Jedermann kann nachrechnen, wie er besser fährt. Beim Schlucken von niedrig dosierten Medikamenten, so mag der Patient denken, komme es nicht darauf an, ob er 1, 2, 3, 4 oder mehr Pillen einnehme. Dabei wäre grösste Zurückhaltung am Platze.
Zum zentralen Aspekt Ihrer Frage: Entweder ist ein Medikament so schädlich, dass es in die Hand des Arztes gehört, welcher den Umgang damit einschränkend lenken kann (auch wenn dies häufig unterlassen wird), oder aber es ist so harmlos, dass es bedenkenlos frei verkauft werden kann. Eine Verkleinerung der Wirkstoffmenge ohne Beschränkung der käuflichen Menge und des Konsums bei einem potenziell gesundheitsschädigenden Medikament kann wirklich nur einem Marketinggenie in den Sinn kommen.
Das zeigt einmal mehr, wie hoch die Schadentoleranz gegenüber Pharmaprodukten ist, zum Nutzen und Frommen der Pharmaindustrie. Aber bei Naturprodukten, die weniger Nebenwirkungen zeigen, wird höchstes Verantwortungsbewusstsein vorgespielt, eine Schmierenkomödie, die laufend absurder wird.
Das Aspirin (Acetylsalicylsäure), die unter anderem zusammen mit vielen Begleitstoffen in den Weidenbäumen enthalten ist, würde ich dem Voltaren ebenfalls bei weitem vorziehen, auch wenn dieses über 100 Jahre alte Bayer-Medikament nicht ganz unbedenklich ist. Es hat immerhin bedeutend weniger Nebenwirkungen, aber es ist nicht frei davon. So besteht etwa die Gefahr von Magenblutungen, Dünndarmschäden, Übelkeit, Ohrensausen, Hautausschlag usw.
In letzter Zeit wurde das Aspirin geradezu zu einem Gesundheitsgaranten emporstilisiert. Es senke das Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko, las man immer wieder; nur sehr grosse Dosen würden das Risiko einer Hirnblutung erhöhen. Dass es als Marke ungefähr dasselbe Ansehen wie Coca-Cola und Kitten Chow (Katzenfutter, ebenfalls aus den USA) hat, macht die Sache nicht harmloser, obschon das Aspirin im Land der unbegrenzten Synthetik-Medikamente bereits beinahe zu den Grundnahrungsmitteln gehört.
Gegebenenfalls könnte man die einzelnen Tabletten ja auch in diesem Fall mit etwas weniger Acetylsalicylsäure bestücken. Dann müsste man sie einfach fleissiger einnehmen. Und Übung macht auch im olympiareifen Hochleistungsschlucken den Meister.
PS: Voltaren Dolo® ist jedenfalls sportmedizinisch erlaubt.
h.
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