Ich habe kürzlich das Buch "Landschaften der Göttin - Avebury, Silbury, Lenzburg, Sion" von Kurt Derungs (edition amalia 2000) gelesen, das ausgewählte Landschaftssysteme einer alten Göttinkultur beschreibt. Darin führt der Autor u.a. aus, dass die Menschen der Jungsteinzeit eine ganz besondere Gesellschaftsstruktur hatten, in der die Frauen tonangebend waren. Diese hätten auch den Ackerbau erfunden. Die Volksstämme aus jener Zeit sollen nie Krieg geführt, sondern sich vor Angreifern (Kelten, Germanen) immer wieder in andere Regionen zurückgezogen haben. Kurz, das schienen fast ideale Menschen gewesen zu sein. Die Forschung auf diesem Gebiet soll noch ganz neu sein.
Meine Frage: Handelt es sich hier wohl um seriös recherchierte, fundierte Informationen? Gibt es weiterführende Literatur zu diesem Thema von anderen Autoren (nicht nur von Feministinnen)?
B.P., CH-4410 Liestal
Antwort: Jede Geschichtsschreibung ist mit Ungewissheiten behaftet, und wenn es um mythologische Schätze und Hintergründe geht, die oft näher bei der Dichtung als bei der Wahrheit sind und der Blick bis in die Jungsteinzeit zurückgeworfen werden muss, dann ist der Nebel um die Wahrheit verständlicherweise noch dichter.
Der 1962 geborene und heute in Bern lebende Kurt Derungs rückt landschaftsmythologischen Aspekten mit kulturgeschichtlichen Werkzeugen wie Geografie, Ethnologie und Religionsmystik zu Leibe und bezieht richtigerweise auch Märchen und Sagen ein. Er klärt also recht gründlich ab, wozu auch seine Studienreisen zu landschaftsmythologischen Stätten oder Regionen gehören. Im Klappentext des von Ihnen erwähnten Werks steht, er habe das mit "akribischer Genauigkeit" getan; gründlicher geht's kaum... "akribisch" allein schon bedeutet "höchst sorgfältig, äusserst gründlich". Und dazu kommt dann noch die Genauigkeit...
Allerdings wäre bei dieser Thematik etwas mehr Sinn für Relativierungen angezeigt gewesen. Gerade in der Welt der Sagen, der Mythen, hat man es vorwiegend mit mündlichen Überlieferungen zu tun, die irgendwann einmal aufgeschrieben worden sind, was den Wahrheitsgehalt nicht verbessert, sondern nur den momentanen Zustand einer Erzählung fixiert. Es geht für Forscher darum, die bruchstückhaften, unzusammenhängenden Fundstücke in den Rang eines nachprüfbaren, kontrollierbaren Wissens zu erheben. Das ist ja schon schwierig, wenn es nur schon um junge geschichtliche Ereignisse wie den 2. Weltkrieg geht.
Muss auf der Basis von uralten, zufällig noch vorhandenen, willkürlich entstandenen, fragmentarischen Bruchstücklein gearbeitet werden, ist auch die Quellenkritik erschwert, und der Interpretationsspielraum wird unendlich weit. In solchen Fällen bedienen sich Forscher oft der retrospektiven oder retrogressiven Methode: Sie versuchen, die älteren Kulturformen z.B. einer Landschaft dadurch zu gewinnen, dass sie die jüngeren und infolgedessen leichter bestimmbaren Formen rückwärtsschreibend feststellen und gedanklich aus der Landschaft entfernen oder auch durch andere ersetzen. Sie erhalten so Querschnitte aus verschiedenen historischen Zeiten. Dabei können auch die typologische und die kulturmorphologische Methode einbezogen werden; sie stützen sich auf Kulturgüter und bringen sie in einen Zusammenhang mit den entsprechenden Kulturprovinzen.
Bei der Bewertung und Niederschrift der so gewonnenen Erkenntnisse kann auch ein gewisses Quotendenken beziehungsweise Auflagedenken mitspielen. Denn Geschichte interessiert ja in der Regel nicht einfach darum, weil etwas war, sondern weil es unser eigenes Denken und unseren Lebensstil noch immer mitbestimmt.
Bei jeder Form von Geschichtsschreibung spielt zudem notgedrungen ein persönlicher Wertrelativismus mit. Die vorhandenen, manchmal ungenauen, widersprüchlichen Fakten müssen zu einem einheitlichen Bild zusammengefügt und manchmal zurechtgebogen werden. Das sind Feststellungen grundsätzlicher Natur. Aber es ist nicht zu bezweifeln, dass Derungs sein Möglichstes tut und beachtenswerte Bücher geschaffen hat.
Auch er ist zwar vor gewissen Ungenauigkeiten nicht gefeit. So schreibt er: "Das kleine Städtchen Lenzburg am Anfang des Seetals..."..Das Tal-Ende (der Talausgang) ist immer unten. Dementsprechend beginnt das Seetal nicht im Umfeld des wirklich sehenswerten Städtchens Lenzburg (www.lenzburg.ch) mit dem markanten, kulturell betriebsamen Schloss, sondern es endet dort... Man spricht vom unteren Seetal, der Fliessrichtung des Aabachs entsprechend. Dieser entspringt dem Hallwilersee, fliesst auf einer Länge von rund 15 km durch das erwähnte untere Seetal und mündet in Wildegg in die Aare.
Die mythologische Literatur ist unendlich gross, und darin sind auch immer Bezüge zu bestimmten Landschaften oder mythologischen Stätten zu finden. Die Mythen der Völker aller Zeiten und Religionen sind noch und noch beschrieben worden, vor allem jene der Griechen und Römer. Alle anderen Mythenkreise wurden lange als exotische Kuriositäten nur marginal berücksichtigt; doch auch diese sind inzwischen von Völkerkundlern (meist zusammen mit Sprachforschern) aus ihrem Dunkel geholt worden. Zu den mythologischen Büchern gehören auch die Sagen- und Märchenbücher und alles, was darüber geschrieben worden ist. Die quirlige edition amalia in Bern (www.amalia.ch) von Kurt Derungs hat sich dieser Fragen auf populäre Art angenommen.
Auch das Internet bietet Mythisches in Fülle: In "Weltall, Erde, Ich - Anregungen für ein selbstbewussteres Leben" befragt Tanja Braumann die Forscherin Heide Göttner-Abendroth zum Thema: Matriarchat die herrschaftsfreie Gesellschaft? Sie können das feministisch geprägte Interview lesen bei http://213.198.63.254/dom/ich-net/auszuege/26.shtml
Eine Serie von Büchern zum Thema Matriarchat finden Sie unter http://www.hau-ab.de/o/d.phtml/Bookmarks/H/hannelore/Matriarchat/
Wenn Sie sich für Geschichten aus der Geschichte auf der Grundlage des Sagenhörens und Hörensagens interessieren, wird es Ihnen nie langweilig. Ein Weg zur Selbsterkenntnis ist das aber nur bedingt, eher ein Element der Unterhaltung, bei der Ihre eigenen Interpretationen und Phantasien durchaus Platz haben.
wh.
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