Bei einem Spaziergang im Landwirtschaftsgebiet haben wir uns gefragt, wie sich die Antibiotika-Rückstände aus Tiermast und aus Klärschlämmen, die auf die Äcker gelangen, hier auswirken. Haben wir diese Medikamente am Ende in der Nahrung? Das hätte gerade noch gefehlt.
A.H., CH-5024 Küttigen
Ich habe gelesen, dass in den Schweizer Mastställen jährlich 39 t und in der EU sogar 13 200 t Antibiotika zum Einsatz kommen. Jetzt nimmt mich nur wunder, wo diese Medikamente am Schlusse überhaupt landen.
C.U., CH 5001 Aarau
Antworten: Das sind wichtige und weitgehend verdrängte Fragen; denn die Antibiotika, die früher zur Mastbeschleunigung und heute zu therapeutischen Zwecken vor allem in Intensivställen und von Ärzten zur Behandlung bakterieller Erkrankungen (meistens vorschnell) eingesetzt wurden bzw. werden, sind überraschend zählebige Substanzen. Es gibt Hunderte, ja Tausende verschiedener Antibiotika, die alle ihre spezifischen Eigenschaften haben. Ein Teil der Antibiotika-Moleküle werden im sauren Milieu des Magens zerstört; beim Amoxicillin z.B. beträgt die Resorptionsrate rund 80% (beim Einsatz bei Menschen); aber der Grossteil bleibt erhalten, um die gewünschten (neben den vielen unerwünschten) Wirkungen zu erzielen[1].
Die Menge der eingesetzten Antibiotika bei Nutztieren und Menschen ist furchterregend; in der Schweizer Tiermast allein sind es pro Jahr laut amtlichen Angaben tatsächlich 39 Tonnen, also sage und schreibe 39 000 kg Reinwirkstoff. Gewichtsangaben sind statistisch leicht erfassbar, aber nur ein Teil der Wahrheit. Es kommt vielmehr auf die Wirksamkeit an, die in den vergangenen Jahren wegen der Resistenzbildungen ständig vergrössert werden musste; es mussten ständig neue Antibiotika-Generationen entwickelt werden.
In den EU-Ländern gibt es noch immer 4 Antibiotika, die als Wachstumsförderer zugelassen sind, eine unzeitgemässe Situation, die durch nichts zu rechtfertigen ist, schon gar nicht durch die Fleischüberschüsse... In der Schweiz sind seit dem 1. Juli 1999 Antibiotika zur Leistungsförderung (Wachstumsbeschleunigung bei Nutztieren) verboten, so dass die gesamte Menge für tiermedizinische Zwecke zum Einsatz kommt: Zusammenballungen von mehreren tausend Tieren in verriegelten Ställen sind ohne praktisch ständige Arzneimittelgaben, therapeutische und vorbeugende Behandlungen nicht über die Runden zu bringen: in den gestressten, geschwächten und unnatürlich gehaltenen Beständen würden ohne eine andauernde therapeutische Abwehrschlacht und präventive Massnahmen eine Seuche nach der anderen ausbrechen. Wir haben China, das uns Anfang 2002 mit Pouletbrüstchen mit überhöhten Antibiotika-Rückständen versorgt hat, im Prinzip nicht viel vorzuwerfen.
Meines Wissens sind die umfangreichsten Untersuchungen des Antibiotika-Gehaltes der Äcker vom Bodentechnologischen Institut Bremen des Niedersächsischen Landesamtes für Bodenforschung (NLfB) zusammen mit der Abteilung für Lebensmitteltoxikologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) im Bereich des Weser-Ems-Gebietes durchgeführt worden. Ich ziehe den Hut vor Forschern, die sich solch essentiellen Aspekten zuwenden und sich nicht einfach auf Vermarktbares kaprizieren.
Die in Deutschland durchgeführten Untersuchungen ergaben, dass die Wirkstoffe in der obersten Bodenkrume festgehalten und nur minim abgebaut werden: Ein Jahr nach der Düngung waren keine nennenswerten Konzentrationsänderungen nachzuweisen (Ergebnisse der Studie können in der "Deutschen Tierärztlichen Wochenschrift" 08-2000, Seiten 332-334 nachgelesen werden).
Auf den meisten Ackerflächen, auf denen Schweinegülle ausgebracht worden war, wurden im Rahmen der erwähnten Untersuchungen Antibiotika aus der Gruppe der Tetrazykline nachgewiesen. In Bodentiefen bis zu 30 cm lagen jeweils insgesamt zwischen 0,1 und 0,5 kg der reinen Wirkstoffe pro Hektare vor. Die Wirkstoffe wurden nur in der obersten Schicht nachgewiesen, und dabei konnte nicht ermittelt werden, ob für Böden und Grundwasser eine Gefahr besteht. Ins Gewicht fallende Grundwasserverschmutzungen sind offenbar nicht wahrscheinlich, hingegen muss angenommen werden, dass die Bodenorganismen in der Oberschicht in Mitleidenschaft gezogen werden, so dass es zu einer Verminderung der Bodenqualität und damit wohl auch der Fruchtbarkeit kommen könnte.
Wie bei der radioaktiven Strahlung spricht man auch hier von Halbwertszeiten. Im Falle der Antibiotika ist die Halbwertszeit jener Zeitraum, in dem die Arzneimittel-Konzentration im Serum oder einer Körperflüssigkeit (zum Beispiel Urin oder Hautblasenflüssigkeit) oder in einem bestimmten Gewebe auf den halben Anfangswert zurückgegangen ist. Der genaue Fachausdruck lautet hier Serum- beziehungsweise Gewebehalbwertszeit. Selbstverständlich ändert sich diese Halbwertszeit von Mittel zu Mittel. Die Ausscheidung erfolgt über Nieren und Leber.
Angaben über die Auswirkungen der in Ackerböden angereicherten Antibiotika auf die Beschaffenheit der hier produzierten Lebensmittel fehlen meines Wissens, so dass man von einem abenteuerlichen und von wenig Verantwortungsbewusstsein geprägten Verhalten der Agromedizin sprechen muss; Risiken dürften nicht ins Blaue hinaus eingegangen werden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die vorläufige "Endstation Boden" nicht nur Sammelbecken und Endlager für Antibiotika ist, sondern für praktisch überhaupt alles (inklusive Hormone, [Agro-]Chemikalien aller Art bis zu den Polychlorierten Biphenylen, Schwermetallen, Rückständen aus der Auswaschung der Luftverunreinigungen). Allem voran die persistenten (langlebigen, hartnäckigen) Stoffe häufen sich in den Böden an, wenn sie nicht ins Grundwasser ausgewaschen werden. Schwermetalle bleiben auf ewig und immer, was sie sind.
Es ist infolgedessen ungeheuer schwierig festzustellen, welcher Wirkstoff aus diesem unerforschlichen und überall in der Zusammensetzung veränderten Giftstoffgemenge welche Wirkung erzeugt. Man weiss ebenfalls nicht, welche Wechselwirkungen stattfinden und was für Veränderungen ablaufen, welche die Lebensräume und die Pflanzen beeinträchtigen können.
Untersuchungen sind wertvoll, bringen (meist viel zu spät) neue Erkenntnisse und führen, wenn alles relativ gut geht, zu Schutzmassnahmen; die gesamte Problematik vermögen sie nicht annähernd zu erfassen.
Einfacher und sinnvoller wäre es, dem Bodenschutz von Anfang an hohe Priorität einzuräumen; es muss alles getan werden, um den Eintrag von Giften und Fremdstoffen aller Art zu verhindern. Es geht schliesslich um eine wesentliche Lebensgrundlage. Der Boden muss von allem, was ihm Schaden zufügen kann, verschont werden; die Sünden aus der Vergangenheit sind gross genug.
Die heutigen Klärschlämme sind wegen des enormen Chemikalieneinsatzes in Haushalten und Industrie landwirtschaftlich nicht oder kaum mehr verwertbar, auch wenn darin wertvolle organische Substanzen, die zur Bodenverbesserung beitragen könnten, enthalten sind. Die Haushaltchemikalien sollten unbedingt eingeschränkt werden, und die Landwirtschaft muss verstärkt und zielbewusster noch als bisher zu naturnahen und tiergerechten Methoden zurückkehren. Chemikalieneinsätze dürfen allerhöchstens eine seltene Ausnahme, aber doch niemals die Regel sein.
Die Erkenntnisse in dieser Richtung sind noch kaum entwickelt, sonst wären unsere Böden und unsere Nahrung in einen besseren Zustand.
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[1] Zu den Antibiotika-Nebenwirkungen beim Menschen gehören Schwindel, Hörstörungen, Magen-Darm-Störungen, Leberschäden, allergische Reaktionen, Zahnverfärbungen usf., je nach Antibiotika-Klasse (Aminoglykosid-, Cefalosporin-, Chloramphenicol-, Lincomycin-, Makrolid-, Penicillin-, Polypeptid- oder Tetrazyklin-Antibiotika, Chinolonen, Sulfonamiden usw.).
Walter Hess
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