Der Rinder-Rhythmus
Mich interessiert der Lebensrhythmus von Rindern, vor allem die Wach- und Schlafphasen. Gibt es irgendwo Literatur darüber?
A. G., CH-8239 Dörflingen SH
Antwort
Rinder werden seit mehreren tausend Jahren vom Menschen als Haus- und Nutztiere gehalten und ausgebeutet, weil sie Milch, schmackhaftes Fleisch und strapazierfähiges Leder liefern; früher wurde auch die Arbeitsleistung dieser Tiere geschätzt. Man darf deshalb davon ausgehen, dass sie sich an den Lebensrhythmus von uns Menschen einigermassen angepasst haben beziehungsweise anpassen mussten. Der Rhythmus, den wir diesen ausgenützten Nutztieren aufgezwungen haben, besteht vor allem im Aufstehen, Essen, Hinlegen, Aufstehen. In der Dunkelheit wird geschlafen und tagsüber nach Möglichkeit geruht. Der Rhythmus wird vor allem durch das Füttern und Melken bestimmt. Das musste ja die Rinder zum Rinderwahnsinn treiben . . .
Inzwischen dürfen einige dieser Tiere gelegentlich wieder im Freien herumlaufen und sich an frischen Kräutern erfreuen. Auch dann pflegen sie Phasen der Ruhe, etwa zur beschaulichen Tätigkeit des Wiederkauens. Bei der Stallhaltung werden Milchkühe während 12 bis 14 Stunden zur Ruhe (vornehmlich liegend) gezwungen, was ihren Kalorienverbrauch reduziert. Auf der Weide oder im Laufstall liegen die Kühe während wesentlich kürzerer Zeit als im trostlosen Anbindestall, der ihnen keinerlei Anregungen bietet.
Es kommt aber auch vor, dass sich Volksstämme auf den Lebensrhythmus der Rinder einstellen, so etwa die Wodaabe in Niger; sie sind so genannte Rindernomaden. Die Zucht und Pflege der langhörnigen Zebu-Rinder ist sehr aufwändig. Nur ungern verkaufen sie ein Tier, geschlachtet wird nur selten. Die Menschen ernähren sich von der Milch und einer zusätzlich gesammelten Pflanzenkost.
Bei uns herrschen keine afrikanischen Verhältnisse. Die weisse Rasse (nicht etwa: weise Rasse) will, dass sich alle Lebewesen ihr anpassen - und nicht umgekehrt. Selbst Rinder mögen darob nicht so ganz glücklich werden, vorab was ihre Haltung in Ställen anbelangt, die eher der Bequemlichkeit der melkenden und fütternden Menschen als jener der Tiere dient, das heisst dass die tatsächlichen Verhaltens- und Klimaansprüche der Rinder erheblich von den derzeitigen, durch den arbeitenden Menschen bestimmten Haltungsbedingungen abweichen.
Für Rinder genügt auch in Mittel- und Nordeuropa ein einfacher Witterungsschutz, wenn für ein weiches, trockenes und zugfreies Lager gesorgt wird. Viele Untersuchungen zeigen, dass die Anforderungen von Hochleistungskühen an den Stall durch einfache Massnahmen zu erfüllen sind. Neben einer Klimaführung, die sich den Aussentemperaturen nähert, kommt es den Intensivproduzenten darauf an, die Tiere zu den oben erwähnten langen Liegezeiten und häufigem Fressen zu bewegen sowie ihnen einen Bewegungsraum ohne Hindernisse zu bieten, weil die Tierschutzvorschriften das so wollen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wurden in den letzten Jahren verschiedene Aussenklimaställe mit Liegeboxen entwickelt, wobei der Liegestall mit Aussenfütterung einen sinnvollen Kompromiss zwischen Wind- und Wetterschutz und dem Bedürfnis der Tiere nach Klimareizen darstellt.
Mit anderen Worten: Wir haben die Rinder vor allem uns angepasst - sie sind in unsere Knechtschaft übergegangen -, und wir kennen den ursprünglichen Lebensrhythmus der Wildrinder kaum noch. Selbstverständlich richteten diese ihren Tagesablauf nach dem Sonnenlicht, unternahmen aber auch grössere Wanderungen, wie man noch von den Bisonherden in Amerika weiss. Millionen von ihnen wurden in den USA von den Einwanderern, die sich schon damals als ausgesprochen schiesswütig zeigten, sinnlos abgeschlachtet, um den Indianern die Lebensgrundlage zu entziehen.
Tausende von Bisons waren zuvor ihrer Schwerfälligkeit zum Trotze alljährlich durch Nordamerika gezogen, und die Prärieindianer stellten ihren eigenen Lebensrhythmus darauf ein. Alle ursprünglichen Rinderarten, die sich über den ganzen Erdball verbreitet haben, lebten gesellig, versammelten sich zu Herden. Als Kühe noch Euter von normaler Grösse hatten, waren sie gute Kletterer, liebten die Bewegung, weil sie sich noch bewegen konnten.
Gute Informationen über die Wildrinder finden Sie in Brehms Tierleben und in aktualisierter Form in „Grzimeks Tierleben“, den noch heute weitgehend gültigen Standardwerken.
Tx.
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