Das Liebespfand
Dietrich Gumhalter, Beamter im Ruhestand, hatte sich sein Gebiss erst vor kurzem anmessen lassen. Die alten Zahnstümpfe waren gezogen, und der Gaumen lag bereit, 2 neue Zahnreihen zu empfangen. Der Briefträger brachte das verheissungsvolle Schreiben, worin er aufgefordert wurde, seine Zähne im 3. Stock des zahnärztlichen Institutes abzuholen. Lange hatte er auf dieses Staatsgeschenk warten müssen. Hastig kleidete er sich zum Ausgehen an. Sein Dackel wollte mitgehen, doch Dietrich Gumhalter drohte ihm mit Seife und Bad, und winselnd verkroch sich der Dackel unters Bett.
„Sie werden sich bald daran gewöhnen“, sprach ihm die Gehilfin zu und reichte ihm die schönsten Zähne seines Lebens. „Sitzt die Gaumenplatte?“ fragte sie ihn. Er hörte sie nicht, sondern starrte gebannt in den Spiegel. Kaum hätte er sich wieder erkannt. Sein Lächeln wurde breiter. Er fühlte sich um ein halbes Mannesalter verjüngt. Die straffen Wangen waren rau von Bartstoppeln, die er vorher nicht bemerkt hatte. Mit der Zunge strich er den Schneidezähnen entlang. Nichts wackelte, unten nicht und oben nicht.
Draussen auf der Strasse spitzte er den Mund: Selbst pfeifen konnte er mit ihnen. Was hatte die Gehilfin zuvor gesagt? Er solle sie anfangs nicht zu lange tragen, damit sich der Mund besser an sie gewöhne. In einer stillen Strasse nahm er die beiden Schmuckstücke aus dem Mund, wickelte sie in sein Taschentuch, und ging mit gesenktem Gesicht weiter.
Wer ihn in seinem Zimmer beobachtet hätte, würde in ihm einen Schauspieler beim Rollenstudium vermutet haben, denn er betrieb eine komische Mimik vor dem Spiegel. Der Hund knurrte unbehaglich, als er sich mit beängstigend entblösstem Grinsen über ihn beugte.
Erst abends, vor dem Einschlafen, kam ihm der Gedanke, dass ihn eigentlich mancher Junge um sein Aussehen beneiden müsste. Das waren keine krummen, gelben Zähne, deren man sich schämen müsste. Gewiss würde er den Damen jetzt wieder gefallen. Dieser Schlummergedanke hakte sich fest und begleitete ihn durch den Schlaf.
Der Morgen lockte ihn früh aus dem Bett. Verlockend blinkten die Zähne durchs Wasserglas. Er begann den Tag mit Frühturnen, das er jahrelang vernachlässigt hatte. „Linkes Bein anziehen – strecken“, befahl sich der kaum verhüllte Herr Gumhalter. „Arme kreisen, so ists gut; na, das genügt. Und jetzt zwei Rühreier“, murmelte er vor sich hin. Natürlich würde er später mit den neuen Zähnen auch richtig essen, doch wollte er sie jetzt noch nicht dazu gebrauchen.
Nachdem er sich sauber rasiert hatte, wählte er die blau getupfte Sonntagskrawatte aus dem Kleiderschrank. Es brauchte etwas Zeit, bis der Knoten ihm klein genug schien. „Bloss nicht so ungeduldig“, beschwichtigte er Leo, den Dackel, der vor Stuhldrang beinahe platzte, „wir gehen ja schon.“
An jenem Morgen fühlte sich Herr Gumhalter so munter und beschwingt wie schon lange nicht mehr. Die linde Frühlingsluft fächelte ihm während seines Morgenspaziergangs gar angenehm ums Gemüt. Allem lächelte er zu, der Sonne, den Milchflaschen vor den Haustüren, der Verkehrsampel an der Kreuzung vorne, und allen Passanten, die ihm entgegenkamen, den weiblichen etwas ausgeprägter.
Entgegen seiner Gewohnheit verzichtete er diesmal auf sein Mittagsschläfchen und ging stattdessen in die Stadt zum Essen. Das Essen schmeckte zwar nach nichts, und er hatte seine Mühe mit dem Brot und Pommes frites. Allein seine Laune blieb ungetrübt. Danach ruhte er sich auf einer Bank im Stadtpark aus und schaute den Kindern beim Spielen zu. Darüber vergass er ganz und gar sein neues Zahngefüge.
Endlich, gegen 4 Uhr, schubste er leicht mit der Schuhspitze den Hund, der träge den Kopf zwischen die Vorderpfoten gebettet hatte. Nach den ersten klammen Schritten zwang er sich zu einem federnden Gang. Vor ihm ging eine junge Frau. Unwillkürlich drängte es ihn, ihr zu folgen. Beim Gittertor, das den Park von der Geschäftsstrasse trennte, lüftete er den Hut und bot ihr einen guten Tag. Ein Wort gab das andere. Ja, der Park sei eine wahre Oase, pflichtete sie ihm bei.
Wie freundlich sie auf sein Gespräch einging, dachte er bei sich. Jahrelang hatte er nur wenige belanglose Worte gewechselt mit alten Bekannten, die im gleichen Viertel wohnten. Manche von ihnen waren schon weggestorben. Sein Redeschwall tat ihm wohl, und innerlich frohlockte er, mit dieser jungen Dame ins Gespräch gekommen zu sein. Wahrscheinlich schminken sich heute alle Frauen so, urteilte er mit einem Seitenblick auf die Unbekannte. „Übrigens habe ich mich noch gar nicht vorgestellt“, unterbrach er seine eigene Rede, „ich heisse Gumhalter, Dietrich Gumhalter.“
Bemerkte er nicht, wie sie belustigt grinste? Zu lange hatte er von allen und allem abgeschnitten für sich allein gedarbt. Gleich einem Kork auf dem Wellenkamm hatte ihn jetzt ein Taumel ergriffen. Jetzt war er obenauf und aufgetaucht aus dem trüben Alltag eines Pensionierten, den die arbeitstolle Welt von einem Tag auf den andern, kurz nach seinem 65. Geburtstag, mehr als die Arbeit genommen hatte. Abgetakelt hatten sie ihn, als er zur Arbeit zu alt war.
Mehrmals wiederholte er jetzt ihren Namen: „Hanna Scharnagl.“ Er prägte ihn sich ein. Keiner der arbeitenden Welt, von der sie lebte, hätte diese Frau am helllichten Tag angesprochen. Ihre Arbeit begann erst mit dem späten Abend. Sie hatte Zeit und keine Bedenken und folgte ihm gern ins Kaffeehaus. Ihre Körpernähe verwirrte ihn. Erstaunte Augenpaare hefteten sich auf die beiden. Beflissen rückte er ihr den Stuhl zurecht. Ausser Kaffee bestellte er noch Törtchen, jene, die er selber so gerne mochte. Sie verzehrte mehrere mit gesundem Appetit. Einen Augenblick rechnete er insgeheim nach, wie lange er warten musste, bis er sich diese Leckerbissen wieder leisten konnte. Trotzdem sah er ihr zufrieden beim Essen zu. Nach der 2. Tasse Kaffee schaute sie auf die Uhr. Wenige Minuten später verabschiedete sie sich von ihm auf der Strasse. Eine Zufallsbekanntschaft mehr oder weniger bedeutete ihr nichts.
Krampfhaft überlegte er, was er tun könnte, um sie bald wieder zu sehen. Zu allem war er bereit, selbst seine neuen Zähne würde er dafür hergeben. Das war es – ein Pfand! Gumhalter zögerte nicht. Einzig vom Wunsch besessen, ein Stelldichein mit ihr zu sichern, wickelte er rasch das Wertvollste, das er auf sich trug, in sein Taschentuch, und reichte der Verblüfften das Pfand mit der beschwörenden Bitte, es ihm doch anderntags um 4 Uhr beim Parktor wieder zurückzugeben. Erst gestern habe er es bekommen, fügte er hastig hinzu, ehe er sich umwandte und davoneilte, ohne ihre Antwort abzuwarten. Hanna versorgte seinen Besitz in ihrer Handtasche und brannte bereits darauf, dieses sonderbare Erlebnis, das sie sogar noch belegen konnte, zum Gaudium ihrer Bekannten auszuschlachten.
Erschöpft sank Dietrich Gumhalter am selben Abend in seinen Lieblingssessel vor dem Fenster. Seine wirren Sinne vermochten die Geschehnisse dieses Tages nicht zu ordnen. Er sank bald in einen tiefen Schlaf.
Mit dem Morgen erst meldeten sich die Bedenken, und er schalt sich einen alten Trottel, so leichtfertig seine neu erworbene Zierde vertan zu haben. Am liebsten hätte er diesen Nachmittag wie üblich in seinem Fenstersitz verbracht, etwas in der Zeitung gelesen oder das Treiben auf der Strasse beobachtet, statt den beschwerlichen Weg zum Park auf sich zu nehmen.
Nach der 1. Weghälfte jedoch gewann er einen Teil seiner gestrigen Keckheit wieder. Schmunzelnd kicherte er sich hinein. Aber als sie nach 3 Stunden noch immer nicht erschienen war, tappte er geknickt nach Hause zurück. Alle Zuversicht war verflogen. Er schämte sich plötzlich.
Einige Tage lang sah man einen alten Mann während der letzten Nachmittagsstunden beim Parktor stehen, der trüben Gedanken nachzuhängen schien. Erst in 4 Jahren würde ihm die Krankenkasse ein neues Gebiss zubilligen. Aber bis dann würde er es nicht mehr brauchen.
Den Leuten in seiner Strasse fiel sein schleppender Gang bald auf. „Mit dem gehts bergab“, sagten sie zu sich.
Emil Baschnonga
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