Duzen, Ihrzen, Siezen, Applaudieren
Autor: Walter Hess
„Wändsi Wii? Wänder Bier? Wötsch Moscht?“ (Möchten Sie Wein? Wollt Ihr Bier? Willst Du Most?) Wie redet man bekannte und weniger bekannte Leute an? Manchmal ist das eine heikle Gratwanderung. Wir wagen uns an ein delikates Kapitel aus der Welt der Alltagskommunikation heran.
Zum Gruss
In der Natur herrscht der Dialog der Düfte – der parfümierte Mensch ist auch ein Stück davon. Überall geht es ums Codieren, Senden, Empfangen, Verstehen – und vieles strandet beim Missverstehen. Ein schelmisches Lächeln begleitet die Ironie, lässt den wahren Sinn erkennen: „Du wirst auch immer jünger“ – Kommunikation mit Ränkespielen. Beim Händedruck ist der Tastsinn aktiviert, der viele Eindrücke vermittelt: bedrohlich fest, zupackend oder weich wie ein Stück Schaumgummi, feucht vor Spannung. Die Armbewegung, die das Entgegenstrecken der Hand einleitet, kann schnell, zögernd oder vorsichtig sein.
Schon eine kurze Begrüssung ermöglicht es also, die Gemütsverfassung seines Gegenübers zu analysieren. Und durch die gewählten Worte kann eine Geringschätzigkeit zutage treten. Wenn man in der Schweiz mit Ihr statt Sie angeredet wird, kann dieses Ihrzen etwas Mundartlich-Heimeliges ausstrahlen, etwa im Bernbiet, anderseits aber auch verächtlich wirken.
Die Verlegenheitslösung
Das schweizerische Ihrzen ist manchmal eine Verlegenheitslösung auf der Suche nach dem zweckmässigen Anrede-Ton, wenn man sich schwer tut, zwischen dem Duzen und Siezen zu entscheiden. Auch im Internet besteht die Streitfrage, ob kaum bekannte Kommunikationspartner mit Du oder Sie anzureden seien, was auch hier zu einem durchgängigen Ihrzen ausarten kann.
Gelegentlich liest man, dieses Ihrzen gehe auf Gajus Julius Caesar zurück: Nachdem der römische Staatsmann, Feldherr und Schriftsteller angeblich am 9. August 48 Pompejus besiegt hatte, habe die Bevölkerung von Rom als Ehrerbietung fortan „Ihr“ zu ihm gesagt. Ob das stimmt oder nicht, bleibe dahingestellt; jedenfalls scheint es, als ob dieses „Ihr“ dem Vorbild des romanischen bzw. französischen „vos“ nachempfunden sei. Ums 12. Jahrhundert war es nämlich Sitte, die Damen zu Ihrzen, besonders wenn sie Königinnen waren. Dann aber verblasste der Glanz dieser Form der Anrede zusehends. Am Ende des 16. Jahrhundert wurden die distanzierteren Anreden „Er“ (für Herren) und „Sie“ (für Damen) eingeführt: „Hat Er/Sie gut gespeist?“, was später durch die Pluralform überhöht wurde: „Haben Sie gut gespeist?“ Der Sprachforscher Johann Christoph Adelung (1732−1806) stellte die folgende Regel auf: „Du wird nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache der engen Vertraulichkeit und 4. in dem Tone der hochgebiethenden Herrschaft und der tiefen Verachtung gebraucht. Ausser diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mit er und sie, noch bessere mit dem Plural sie, und noch vornehmere mit dem Demonstrativo Dieselben an.“
Das Titulieren
Das Duzen ist ein Ausdruck von Solidarität, von Gruppenzugehörigkeit, neuerdings aber zweifellos auch eine Beeinflussung durch das englische unterschiedslose „You“ (für Du, Sie, Ihr und Euch). Mischformen wirken besonders unangenehm: „Frau Benetti, kannst Du mir einen Rat geben?“ - oder: „Erna, können Sie mir eine Tasse Tee bringen?“ Das ist das so genannte „Hamburger Sie“, eine alte, überholte Anredeform).
Das Siezen der vertrauten Runde kann eigenbrötlerisch und unkollegial wirken. Wie rasch und in welcher Form sich dieser Wechsel vollzogen hat, wird vom Anredeforscher Werner Besch in seinem Buch „Duzen, Siezen, Titulieren“ ausführlich dargestellt. Diesem Werk ist unter anderem zu entnehmen, dass die schwedische Möbelfirma Ikea aus einer der skandinavischen Duz-Nationen allen ihren Mitarbeitern das gegenseitige Du verordnet hat; wie es auch bei Nokia (Finnland) und Hennes & Mauritz (Schweden) üblich ist. In den Unternehmen spielt die Branche eine Rolle; duzfreundlich sind insbesondere Werbeagenturen, Unternehmensberatungen und Softwarefirmen, wo das Sie beinahe zur Ausnahme geworden ist. Das Du ist unter Arbeitskollegen, Vereinsmitgliedern, Schülern, Freunden usf. eine Selbstverständlichkeit.
Inzwischen sind ein Gegentrend sowie ein Bedürfnis nach höflicher Distanz und formaler Stütze der Autorität zu beobachten, und das Sie stellt diese her. Eine vertrauliche Anrede schafft die existierenden Unterschiede ohnehin nicht aus der Welt. Wenn ich selber jemandem das Du antrage, ist das nicht einfach ein trendiges, bedeutungsloses Ritual, sondern ein Ausdruck von aufrichtiger Sympathie, von persönlicher Nähe und freundschaftlichem Einvernehmen. Die Du-(You-)Gleichschaltung aber verunmöglicht solche Differenzierungen. Deshalb bin ich mit der Duzerei eher zurückhaltend.
Das vereinfachende, zeitsparende Duzen wird als Motor für eine offene Kommunikation betrachtet. Doch auch nach den Feststellungen des Berner Soziologieprofessors Gerhard Amendt hat es seine Tücken: Es kann verhindern, dass Konflikte offen thematisiert und ausgetragen werden. Nach Amendts Beobachtungen wächst das Unbehagen an der vertraulichen Anredeform, wenn wirtschaftliche Schönwetterperioden verschärftem Konkurrenzdruck weichen. Das Du, das der Chef den Untergebenen anbietet, könne instrumentalisiert werden, warnte Conny Antoni, Professor für Arbeitspsychologie an der Universität Trier. Über pseudo-persönliche Beziehungen könne versucht werden, Abhängigkeiten zu schaffen, die es Mitarbeitern erschweren, unangemessene Forderungen abzuwehren.
Applaus auf Vorschuss
Der Applaus gehört zweifellos zu den Kommunikationsformen − er ist die Sprache des dankbaren Publikums. Er kann kühl, höflich verhalten, aufmunternd, frenetisch, tosend, ja orkanartig und „das Brot des Künstlers“ sein, wie man sagt. Er kann auch ausbleiben und durch Pfiffe ersetzt werden. Die höchste Form der Ehrerbietung ist der stehende Applaus (Standing Ovations), der richtig als Applaudieren im Stehen bezeichnet werden müsste (denn das Publikum steht ja und nicht etwa der Applaus ...), der allerdings sehr inflationär eingesetzt wird − einer steht meistens auf, und dann machen es ihm alle nach. Herdentrieb. Nach langen Sitzperioden macht etwas Gymnastik ohnehin Sinn ...
Aber selbst der normale Applaus ist nicht mehr, was er einmal war. Wenn ein Popstar oder seinesgleichen auf der Bühne erscheint und kaum den ersten Ton von sich gegeben hat, gehen in der Regel unwahrscheinliche, ohrenbetäubende Begeisterungskundgebungen los. Die Kids stehen auf, schreien, pfeifen, werfen die Arme in den Himmel, so dass niemand mehr dem Musik- oder Liedvortrag lauschen kann und höchstens noch die vordersten 2 Reihen den Blick zur Bühne frei haben. Das ist dann Lob auf Vorschuss für eine Unterhaltungskunst, die niemand wahrnehmen kann, weil sie in den Begeisterungsstürmen untergeht.
Der Schweizer Musiker Pepe Lienhard hat am 5. Dezember 2000 in einem Gespräch bei Radio DRS1 das einheimische Publikum gegen die von Radio-Mitarbeitern ständig verbreitete Beurteilung, es sei verhalten und schwer begeisterungsfähig, in Schutz genommen: Ihm sei es lieber, sagte Lienhard, wenn das Publikum zuerst einmal zuhöre und dann seinen wirklichen Empfindungen ehrlich Ausdruck gebe. Wenn es dann Begeisterung zeige, habe das Gewicht.
Ja, alles andere ist bloss Schaumschlägerei. Und daran besteht ohnehin keinerlei Mangel.
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