Zufälle und Konstellationen in der globalisierten Welt
Festansprache von Heiner Keller an der Vernissage „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ vom 29. April 2005 im Schlosshof von Biberstein
Geschätzte Gäste
www.google.com: Walter Hess, suchen.
691’000 Treffer. Tendenz steigend (April 2005). Walter Hess mit dem Textatelier auf Rang 9, gleich nach einer Schreinerei im Tösstal. Nobelpreisträger besetzen die ersten Plätze.
Google: Heiner Keller, suchen.
152’000 Treffer, Tendenz sinkend. Die 3 Podestplätze und 7 der ersten 10 Ränge besetzt mit Heiner Keller ANL, Doracher Oberzeihen, Galerie und dem Textatelier auf Rang 8.
Was erkennen wir daraus? Auch in einer globalisierten Welt gibt es Zufälle und Konstellationen. Nicht nur das eigene Tun oder Nichttun bestimmen, wohin wir in der Masse der Information gespült werden und wie wir in Statistiken und im gesellschaftlichen Leben wahrgenommen werden. Und um Information, Wahrnehmung und Kontrapunkte ist es im journalistischen Leben von Walter Hess immer gegangen, zumindest seit ich ihn kennen lernte.
Erinnerung an Bleiwüsten
Walter Hess ist ein Viel- und Raschschreiber. Er hat sein Handwerk gelernt, zu einer Zeit, als es noch Schreibmaschinen, Reporter, Journalisten und im Aargau so etwas wie eine Medienvielfalt gab. Legendär sind seine mehrseitigen Grossratsprotokolle, eng geschriebene Bleiwüsten, die jeweils am Mittwoch nach den Grossratssitzungen das freisinnige „Aargauer Tagblatt“ (heute „Aargauer Zeitung“ AZ) füllten. Das hat mich damals schon beeindruckt: Den ganzen Tag im Parlament, abends an der Schreibmaschine und am anderen Morgen in der Zeitung. Bei diesem Schreibtempo lieferten Grossrat, Regierung und Verwaltung natürlich nicht genügend Stoff. Jahrelang bekamen die Leser des AT seine weitschweifigen Beschreibungen über die Eskapaden der Aarauer Weinbruderschaft franko Haus geliefert. Welche Wortwahl, welche Gefühle beim Schlürfen und Diskutieren!
Walter Hess war immer für eine aussergewöhnliche Schlagzeile und für einen Artikel oder einen Kommentar gut, der vielleicht nicht genau der staatstragend strammen Linie der Chefredaktion entsprach. Hess zog förmlich Informationen an und pflegte seinen Stil. Locker, euphorisch und vor allem regelmässig nahm er an organisierten Pressefahrten über Natur- und Landschaft im Kanton Aargau teil. Der organisierende Aargauische Bund für Naturschutz ABN konnte gewiss sein, dass am nächsten Tag frische Titel, Bilder und Sprüche prominent und belebend in der konservativen Zeitung erscheinen. Die Art der Berichterstattung hat auch dem Naturschutz gut getan: Raus aus dem Verstaubten, dem Geordneten, dem Abgewogenen, hinein in die Frische des Lebens.
Ohne Walter Hess beim AT hätte ich das Abonnement mehrmals gekündigt. Er hat aber nicht nur Abonnenten bei der Stange gehalten, sondern mit seiner Art auch Erfolge erzwungen. Hess war massgebend schuld, dass die Sondermülldeponie Kölliken SMDK (endlich) geschlossen wurde. Mit dramatischen Auswirkungen auf die Schweiz (wohin mit dem Sondermüll?) und mit einer riesigen Kostenersparnis für den Kanton Aargau: Die Entsorgung kostet heute Hunderte von Millionen Franken. Steuerzahler und Kanton müssten Walter Hess ewig dankbar sein und sich mit einem Gedenkstein, einem Preis oder einem Beitrag erkenntlich zeigen!
Richtig aufgeblüht ist Walter Hess als Chefredaktor des „Natürlich“. Die Zeitschrift dümpelte so mehr oder weniger dahin, bevor auf einmal perfekt illustrierte und aufgemachte Artikel mit einer persönlichen Haltung der Autoren zu allen möglichen und unmöglichen Themen publiziert wurden. Ohne Rücksicht auf Verluste – nach dem Motto: „Ist der Ruf erst einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“ Walter, der Motivator: Da hauen wir noch einen drauf! Und die so Engagierten kriegten natürlich auch einen Teil der Haue wieder zurück. Auf jeden Fall überlebten wir, und ich habe gerne mitgemacht. Wenn man aus Überzeugung Recht hat und einem die Entwicklung Recht gibt, hat sich die Sache gelohnt. Das war bei Walter Hess der Fall. Die Lorbeeren für das damalige „Natürlich“ gehören vollumfänglich ihm.
Das Leben nach 65
Wenn man sich auf das Leben nach der Pensionierung vorbereitet, stehen überall viele Ratschläge im Raum: Treuhänder, Versicherer, Lebensberater, Reiseveranstalter und jede Art von Careteams machen Angebote. Nur eines lesen Sie mit Sicherheit nirgends: Gründen Sie einen Verlag! Und: Walter Hess hat seine Pensionierung gar nicht vorbereitet. Er hat einfach weitergeschrieben.
In diesen Internet-Zeiten schreibt er jetzt nicht mehr, sondern er bloggt und boomt. Ich persönlich kann mich noch nicht so ganz anfreunden mit der Unmenge von Tagebuchblättern, die vom Textatelier ununterbrochen produziert werden. Die Anzahl der globalen Besucher mag darob ja steigen. Aber sie alle bilden keinen Ersatz für etwas auf Papier Geschriebenes. Für das unbeschreibliche Gefühl, wenn Sie an eine Sitzung kommen und ihre Gesprächspartner und Kontrahenten schon alle eine Kopie des letzten „Natürlich“-Artikels auf dem Tisch liegen haben. Engagement und Haltung müssen fassbar, sichtbar, verhandelbar sein, damit sie wirken. Und so freue ich mich natürlich, dass Walter Hess über die Gründung des Verlags Textatelier.com GmbH auch wieder zum gedruckten Wort gefunden hat.
Es werden zum Glück mehr Bücher gekauft als gelesen. Ich gehe davon aus, und hoffe es sehr, dass das Buch „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ von Walter Hess sowohl gekauft als auch gelesen wird, auch wenn er sich ein schwieriges Thema vorgegeben hat. Doch die Zeit ist schwieriger geworden. Wir wissen zu viel, wir schreiben zu viel, und wir gehen in der Masse der Einheitswelt unter. Es sei heute einfach, ein Buch zu schreiben – sagte mir der Mann am Schalter der Kantonsbibliothek. Er muss es wissen, denn er leiht die Bücher aus. Was er aber nicht wissen kann: Der Verlag und Walter Hess wollen es aber gar nicht einfach haben. Wir wollen weiter. Wir wollen uns auch in der Internetzeit Leben, Engagement und Spass bewahren.
Sie, liebe Gäste, können mithelfen, indem Sie mitmachen: Nicht nur kaufen und lesen, sondern weiterempfehlen, reden und schreiben, dafür oder dagegen, einfach machen.
Noch einiges zu tun
Und Walter Hess? Was kann er machen, dass er im Internet die Spitze erklimmt? Er kann
- eine andere Suchmaschine propagieren,
- seinen Namen durch einen Buchstaben ergänzen (es braucht ja nicht gerade Walter W. Hess zu sein),
- er muss sich um einen Nobelpreis bemühen . . .
Erst nachher hat er es geschafft. Damit wünsche ich ihm noch viel zielgerichtete Schaffenskraft, viel Erfolg und Ihnen allen einen schönen Vernissage-Abend.
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