Übertreibungen. Untertreibungen
Zwischen dem Himmelhoch-Jauchzen und dem Zu-Tode-betrübt-Sein scheint es nur noch ein wachsendes Vakuum zu geben. Die Übertreibungen nach beiden Seiten werden immer ausgeprägter. Die abwägende Vernunft gehört offensichtlich ebenso der Vergangenheit an wie die Übernahme von Selbstverantwortung.
Man könnte sich vorstellen, dass die Neigung zu extremen Haltungen unter anderem mit der Überfülle an unzusammenhängenden Informationen zu tun hat, die von Medien aller Art (Druckerzeugnisse, Radio, Fernsehen, Internet) als Nachrichten oder Werbung in ihren vielgestaltigen Ausprägungen auf das wehrlose Volk niederprasseln: Das Publikum steht unter der ständig spritzenden Infodusche, die keinen Abstellhahnen kennt. Der endlose Strom aus zerstäubtem Faktenwissen kann von ihm unmöglich richtig bewertet werden. Die meisten Leute lassen sich willenlos mitreissen, jubeln wie die "Kids" frenetisch, wenn Jubel vorgegeben ist, ähnlich wie immer dann, wenn ein hüftewackelnder Popstar seine englischen Brocken ins Mikrofon gepresst und damit seine Zugehörigkeit zur Weltmusik-Monokultur unter Beweis gestellt hat. Die wertende Beurteilung der Darbietung oder anderweitiger Zeiterscheinungen unterbleibt zunehmend. Werden aber gerade Weltuntergangsstimmungen verbreitet, schliesst man sich auch hier der Mehrheit an, weil jetzt alle daran glauben. Das gehört sich so. Dann ist man dabei.
Der Herdentrieb erfasst Bullen, Bären und Menschen gleichermassen: Wenn an der Börse alle kaufen, führt das zu einem sich verstärkenden Sog, zu gigantischen Spekulationsblasen, denen auch die Analysten und die Presse erliegen. Diese dürfen ungestraft alles behaupten. Wenn sich Prophetien und Versprechungen bald einmal ins Gegenteil verkehrt haben, sind die Fachexperten mit neuen Weissagungen gegenteiliger Art und Durchhalteparolen parat. Wieder nimmt man ihnen das ab. Die Medien sind ins Geschehen eingebunden und wirken als Blasebälge. Bei depressiven Stimmungslagen wird die Verkaufspanik durch Herabstufungen und die Verbreitung von übertreibenden Weltuntergangsstimmungen zusätzlich angeheizt. Immer sind sich alle einig, und genau das wirkt sich verheerend aus: Wenn auf einem Schiff alle Passagiere der Lee-Seite zuströmen, weil sie ein starker Wind dorthin getrieben hat, kippt es eben.
Das ewige Hin und Her: Die Rinderseuche BSE wurde zuerst verharmlost, heruntergespielt, dann übertrieben dargestellt. Ähnlich ist es bei Aids, ein wahrhaft dramatischer Zusammenbruch des Immunsystems, für den angeblich ein Virus die Verantwortung zu tragen hat, damit man sich nicht mit den gesundheitszerstörenden Einflussfaktoren des modernen Lebensstils befassen muss. Ob die Krankheit vielleicht Zusammenhänge mit Chemiegiften, Medikamenten, Drogen-Cocktails, giftigen Nahrungsinhaltsstoffen haben könnte, untersucht man lieber nicht. Die Virustheorie hat sich im Alltagsgebrauch und bei der Lockermachung von Forschungsgeldern als die zweckmässigere und weniger geschäftsschädigende erwiesen.
Verzerrungen, Hochschaukelungen, Übertreibungen sind unsere ständigen Begleiter auch beim Promi-Kult, ob man in die Nähe oder fernsieht: Nach einem hinlänglich vertrauten aufbauschenden, lockeren Strickmuster werden aus menschlichen Staren die Megastare, für kürzere oder längere Dauer. Die Medienkinder, geistlose Nachbeter der infantilen Kultur aus dem Disneyland, überbieten sich in Lobgesängen auf alles, was ins vereinheitlichte Weltbild passt und dieses weiterträgt. Wichtige Fragen der Zeit (Zerstörung der Biosphäre, Vergiftung der Lebensmittel, Folgen von Gentechnologie und der Biotechnik überhaupt, therapeutisches Klonen, kulturelle Einebnungen, Abbau der kritischen Intelligenz) werden vernachlässigt. Stattdessen werden Bagatellen zu Sensationen aufgebauscht.
Medienschaffende erfinden aus Quoten- und Absatzgründen immer neue Superlative, machen aus misshandelten Hunden titanische Monster; Borkenkäfer werden zur zerstörerischen Bedrohung für Wälder. Zecken bedrohen die Menschheit stärker als alle Chemiegifte zusammen, und aus Stürmen werden gigantische Höllendesaster: Sensations- und Schlagzeilenjournalismus. Medien schüren Alarmstimmungen quotenhalber, und wenn dann wirklich Alarm berechtigt sein sollte, reagiert kein Knochen mehr darauf, abgestumpft ist abgestumpft. Auf der anderen Seite spielen die Behörden tatsächliche Gefahren und Schäden herunter, die sie übersehen haben. Alles im Griff.
Die Wertungen geraten immer offensichtlicher aus den Fugen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn die Irritationen wenigstens gleichzeitig in unterschiedlichen Ausformungen erscheinen würden; man könnte sich dann wenigstens den geringsten Grad des Irrtums aussuchen. Dramatisch wird es erst, wenn Verzerrungen und Übertreibungen alle ein und demselben gesellschaftlichen oder medialen Muster folgen, wenn ein streng kanalisierter Mainstream (wörtlich übersetzt: Hauptstrom) kaum noch Abweichungen zulässt und dadurch ein ungeheurer Anpassungsdruck ausgelöst wird. Dadurch können wahre Hysterien (wie etwa nach Kriegserklärungen, bei Jagden nach Terroristen, wilden Tieren und Bakterien ausgelöst werden, Blasen im apokalyptischen Stil, die sich selber hochschaukeln. Erinnern Sie sich noch an den vorhergesagten Computer-Millennium-(Hum-)Bug 2000?
Der Ausdruck Mainstream stammt - Sie haben es erraten - aus den USA. Anfänglich bezeichnete man dort damit die Strategie der amerikanischen Gesellschaft, Einwanderer aus allen Herren Ländern auf die "entwickelte" US-amerikanische Kultur hin zu sozialisieren; in Deutschland hat man in diesem Zusammenhang das bezeichnende Wort "Leitkultur" entwickelt. Die globale Leitkultur kennt eine klare Führungsmacht mit unbeschränkten Kompetenzen, der sich die Massen meistens freiwillig unterwerfen. Im Weltendorf ist es zum Massensport geworden, den Kopf möglichst weit in die ausgelegten Schlingen hineinzustrecken.
Früher hätte man dem, was heute Mainstream heisst, schlicht und deutsch Mode gesagt: Diese Mode äussert sich nicht nur in der Bekleidung, sondern auch in der Sprache und damit im Denken, im Verhalten; auch das Layout (die Aufmachung) von Druckerzeugnissen unterliegt Moden. Solche gibt es in der Wirtschaft mit ihren Visionen und Strategien ebenso wie in Politik, im Benehmen, in Architektur, Ernährung, Gartengestaltung - schlechthin überall. Die Medien entfernen sich zunehmend vom Berichten über Ereignisse; vielmehr haben sie damit begonnen, selber Ereignisse zu schaffen und darüber zu berichten, immer im Chorgesang, wie es die gegenseitige Verbundenheit als vernetzte kommerzielle Gemeinschaften erfordert. Die einheitliche Haltung scheint für Qualität des Gebotenen zu bürgen. In demokratischen Gemeinschaften gilt zu Recht, was die Mehrheit beschliesst. Das heisst allerdings noch lange nicht, dass Mehrheiten, die sich werbestrategischen und massenpsychologischen Phänomenen nicht entziehen können, auch richtig liegen.
Meistens sind die Rudel bloss vom mitreissenden Hauptstrom in die Abgründe der Gleichschaltung gerissen worden; spezielle Alphatiere braucht es nicht. Es wird wohl niemand behaupten wollen, dass Schafe, die sich als Herdentiere willenlos überall hinführen lassen, genau aus diesem Grund durch eine überdurchschnittliche Intelligenz auszeichnen würden. Damit sei nichts gegen die Schafe gesagt - wir wollen ihnen kein Unrecht tun. Sie verhalten sich wesensgerecht und damit richtig. Sie schon.
Walter Hess
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