Im Land der Gewalt mordet auch die Sprache
Aus dem Essay „Armes Amerika – arme Welt“ von Erwin Chargaff, Klett-Cotta 1994
Erwin Chargaff, 1905–2002, war Biochemiker und Schriftsteller österreichischer Abstammung, lebte ab 1935 in den USA und war an der Erforschung der DNA-Struktur beteiligt.
Seine ersten Eindrücke von New York (erster Aufenthalt 1928):
. . . die Verwirrung der Sprache und die Entwertung aller grammatikalischen Formen, besonders des Superlativs; eine gigantische Attrappe ( . . .).
. . . wie sehr die Brutalität der Sprache den Neuankömmling erschrecken musste. Man wird nicht entlassen („dismissed“), man wird hinausgeschmissen („fired“, „ousted“, „kicked out“), ob es sich nun um einen Kabinettsminister oder den Generaldirektor des grössten Konglomerats handelt. Ich hatte Englisch gelernt, bevor ich Amerika betrat, und wusste, dass es nicht gerade eine sanfte Sprache war. Schon in ihrer mittleren Periode hatte die Sprache ihre aus dem Germanischen ererbten Diminutive eingebüsst: Wörter wie ‚Kindchen’ oder ‚Fischlein’ sind nicht äquivalent übersetzbar (. . . ).
Man wird mit Recht sagen, dies seien Lappalien. Aber über einen banalen Kiesel stolpert man viel leichter als über das Matterhorn. Wenn man einige Zeit in Amerika gelebt hat, wird man merken, dass Sprache ein Spiegel und ein Kompass ist. In einem Land von extremer Gewalttätigkeit mordet auch die Sprache, und sie wird gemordet. Man braucht nur daran zu denken, was aus der deutschen Sprache unter Hitler und den Seinen geworden ist. (Nur bei Shakespeare sprechen auch die Mörder in 5füssigen Jamben.) So erkannte ich zuerst die Rohheit der Sprache und erst nachher die Roheit der Sitten . . .
Sprachparalyse – Schon bei meinem ersten Aufenthalt im Land, 1928–1930, war es mir aufgefallen, dass die Amerikaner ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sprache haben. Es gebe zwar keine offizielle Landessprache – so hatte ich mir zu meinem Erstaunen sagen lassen −, aber die amerikanische Form des Englischen war damals als selbstverständlich angesehen, obwohl sie nicht in der Verfassung verankert ist. Wenn man vom Wohlklang absieht, ist Englisch vielleicht die mächtigste Sprache der zivilisierten Welt . . .
Das war es nun,, was ich zuerst zu erkennen vermeinte, das Wesentliche wurde irgendwie gesagt, aber es fehlten die Obertöne, so dass selbst jenes verarmte. Die Sprache klang angelernt, aus zweiter Hand . . .
Warum ist dann die Sprache des Landes so schal, so schwach, so zimperlich geworden? Was sind die Umstände, die ernstes Nachdenken sichtlich unmöglich machen? Man hat den Eindruck, dass das Denken als undemokratisch gilt. Demgemäss wuchern die Substantive, besonders abstrakte Neubildungen, und die Verben gehen nach und nach verloren, bis auf die wenigen, auf die man nicht verzichten kann, wie „to be“, „to have“, „to take“, „to put“ usw. Selbst jetzt, trotz allgemeiner Verkümmerung der Sprachen auf der ganzen Welt, lesen sich von Engländern verfasste Texte ganz anders als die von ihren amerikanischen Partnern geschriebenen ( . . . ).
Das Misstrauen gegenüber dem Intellekt, die Verachtung des Denkens, das Verhältnis zur Sprache, als wäre sie ein Schmutzlappen, sie alle steigen wie ein Miasma aus dem Boden des Landes (. . . ). Dass die kuriose Beschimpfung eines Intellektuellen als eines Eierkopfs (egghead) schon vor Jahren in den Duden eingedrungen ist, zeigt, wie rasch Greshams Regel von der Verdrängung des Besseren durch das Schlechtere sich auch in Europa durchgesetzt hat.
Zitate-Zusammenstellung: Lislott Pfaff
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