Mandeln rödern statt entfernen
Die verhängnisvolle Amputationschirurgie blüht nach wie vor
„Jede Modetorheit in der Medizin wird zum Gesetz des Handelns für alle erklärt, wenn nur die Macht der Modeschöpfer gross genug ist“, sagte der bekannte deutsche, chirurgiekritische Arzt Julius Hackethal (1921–1997) einmal, mit dem ich während meiner Tätigkeit als Medizin- und Naturheilkunde-Publizist häufig Kontakt hatte und Unterstützung bekam. Er kämpfte gegen die überflüssigen Untersuchungen und Operationen, deren Schäden ins Unermessliche gehen. In seiner Hauszeitschrift „Eulalia“ berichtete er einmal von der „Medizin-Mode Eierstocksjagd“, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts grassierte.
Jagd auf Eierstöcke
In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts war die britische Chirurgie in der Welt führend. Einer der chirurgischen Hohepriester war Sir Thomas Spencer Wells (1818–1897). Er vertrat die Auffassung, dass die Eierstöcke der Frau die Wurzel aller Gesundheitsübel seien. Und folgerichtig machte er das Herausschneiden dieser weiblichen Keimdrüsen zur grossen Medizinmode mit Vorbildwirkung.
Ovariotomisten nannten sich jene mit Chirurgenstolz, die sich auf Wells Spuren auf die Kastrationsoperationen der Frauen spezialisiert hatten. Dem fleissigen Amputator Wells wurden weit mehr als 1000 Ovariotomien (Eierstockentfernungen) bei über 75 % Erfolg nachgesagt; sein Ansehen war gewaltig. Hackethal:„Nur (!) jede 4. Frau starb bei diesem grossen Könner an der Vorsorge-Operation.“ In Deutschland entfernte der berühmte Münchner Chirurg Nepomuk von Nussbaum (1829–1890) Hunderte von Eierstöcken. In zahlreichen Fällen kam es zu jener Zeit fast überall zu meist tödlichen Infektionen, weil gerade die Zeit des so genannten Hospitalbrands herrschte, der meistens von Chirurgenhänden verschleppt wurde. Der schottische Geburtshelfer und Erfinder der Chloroform-Narkose, Sir James Young („JY“). Simpson (1811–1987), schrieb dazu: „Der Mann (und wohl auch die Frau! Red.), der in einem unserer chirurgischen Krankenhäuser auf dem Operationstisch liegt, schwebt in grösserer Gefahr zu sterben, als der englische Soldat auf dem Schlachtfelde zu Waterloo.“
Es herrschten in den Krankenhäusern fürchterliche Zustände, die mit Hygiene überhaupt nichts zu tun hatten. (Sensible Gemüter sollten diesen Absatz überspringen.) Richman John („RJ“) Godlee (1849–1925) berichtete z. B., dass Chirurgen vor Operationen einen alten Rock anzogen, der für andere Zwecke nicht mehr zu verwenden war. Der mit Blut und Eiterkrusten bedeckte Rock war geradezu ein Statussymbol, aus dem der ältere Chirurg nicht ohne eine gewisse Geringschätzung auf das noch saubere Kleid des Anfängers herabblickte.
Die Spitalinfektionen gibt es heute auch noch, auch wenn die Hygiene wesentlich verbessert worden ist, aber offenbar noch immer nicht genug. Wegen des übertriebenen Antibiotikaeinsatzes werden die Spitäler zu Brutstätten von hartnäckigen Keimen, die konkurrenzlos sind (die harmloseren sind ja abgetötet) und gegen die kein Kraut gewachsen ist.
Und die überflüssigen Operationen haben gegenüber früheren Jahrhunderten zweifellos noch zugenommen; am wenigsten betroffen davon sind die Familienangehörigen der Ärzte und Advokatenfamilien. Auch die meisten Mandelentfernungen dürften überflüssig sein.
Die Aufgabe der Mandel
Die Gaumenmandel (tonsilla palatina) ist ein paariges Organ aus lymphatischem Gewebe. Diese Mandeln bilden zusammen mit der Rachenmandel und den Zungenmandeln den lymphatischen Rachenring. Dabei handelt es sich um ein differenziertes lymphatisches Gewebe am Übergang der Mundhöhle zum Rachen, das reich an Lymphozyten ist. Die Lymphozyten gehören zu den weissen Blutkörperchen (Leukozyten); es sind die kleinsten davon. Sie sind die eigentlichen spezifischen Abwehrzellen des menschlichen Körpers. Die Mandeln sind somit ein Teil des lymphatischen Systems, damit ein Bestandteil des Immunsystems und infolgedessen von Bedeutung für die Gesundheitserhaltung. Man dürfte sie also keineswes leichtfertig entfernen.
Das lymphatische System (Lymphsystem) ist eine Art Nebenfluss des grossen Blutkreislaufs. Sein Fassungsvermögen entspricht ungefähr dem Umlaufvolumen des Bluts, hat also beachtliche Dimensionen. Dieses Lymphsystem (Systema lymphaticum) ist ein Teil des Abwehrsystems aller Wirbeltiere (inkl. Menschen) gegen Krankheitserreger, Fremdpartikel und krankhaft veränderte Körperbestandteile (z. B. Tumorzellen). Es gliedert sich in die lymphatischen Organe und das Lymphgefässsystem. Die klare Lymphflüssigkeit unterscheidet sich vom Blut durch das Fehlen von roten Blutkörperchen. Sie ist sonst aber ähnlich zusammengesetzt wie das Blutplasma, allerdings ärmer an Eiweissstoffen und Kohlehydraten, aber reicher an Fettstoffen und Wasser. Besonders im Darmgebiet kann der Fettgehalt so gross werden, dass die Lymphe nicht mehr durchsichtig, sondern milchig-weiss ist.
Ein Lymphknoten (Nodus lymphaticus oder Lymphonodus) ist eine „Filterstation“ für die Lymphe (Gewebswasser) und gehört zum Lymphsystem. Jeder Lymphknoten ist für die Aufnahme und Filterung der Lymphe einer Körperregion zuständig. Dieses gefilterte Areal wird tributäres Gebiet genannt, der Lymphknoten ist der regionäre Lymphknoten dieses Gebiets.
Teil des lymphatischen Systems
Die Mandeln gehören zu diesem lymphatischen System des Körpers und dienen der Infektabwehr, sind also keineswegs unnütz, im Gegenteil! Sie sind eine Art Frühwarn- und Lernsystem des Körpers gegenüber körperfremden Stoffen aus der Umwelt ( Viren, Bakterien) und haben gerade in dieser Zeit der Rückkehr von Seuchen aller Art viel zu tun – eine wichtige Aufgabe. Sie schwellen ähnlich wie die Lymphknoten an, wenn sich der Körper gegen eine Infektion zur Wehr setzt. Dabei werden Abwehrzellen und Antikörper produziert und in den Blut- und Lymphkreislauf sowie in die Mundhöhle und den Verdauungstrakt abgegeben.
Die Mandeln können auch entzündet sein, wobei man von akuten Tonsillitis oder Angina spricht. Die häufigsten Erreger der meist bakteriellen Erreger sind so genannte Beta-hämolysierende Streptokokken[1](zu Ketten angeordnete Kokken). Umgangssprachlich wird die Krankheit auch als Mandelentzündung bezeichnet. Hauptsymptome dieser Erkrankung sind Schluckbeschwerden, Halsschmerzen und Fieber. Während der Wintermonate und im Frühjahr tritt die Infektion öfter als in den anderen Jahreszeiten auf. Die Erkrankungshäufigkeit ist zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr am höchsten und ebbt im Verlaufe des weiteren Lebens meistens allmählich ab.
Die Folgen der Mandelentfernung
Die Gaumenmandeln nehmen, wie man sieht, die höchst bedeutende Funktion einer tatkräftigen Gesundheitspolizei wahr. Entfernt man sie, geht dem Lymphsystem des Kopfbereichs das wichtige Ausscheidungsorgan verloren, und damit wird eine der Möglichkeiten zur Entgiftung des Körpers blockiert. Die Entfernung der Gaumenmandeln und ihrer Kapseln (Tonsillektomie) könnte mit der Abschaffung der Kehrichtabfuhr und auch gerade noch der Polizei verglichen werden. Diese Massnahmen würden ja auch nicht bewirken, dass die Kriminalität zum Verschwinden gebracht werden könnte und eine Stadt sauberer würde ... Zwar gibt es Millionen von Menschen, die ohne Gaumenmandeln leben müssen, und es scheint, dass andere Systeme deren Funktionen übernehmen; aber wahrscheinlich würde der Organismus (noch) einwandfreier funktionieren, wenn diese Gaumenmandeln noch vorhanden wären.
Oft scheint es, als ob die Natur die Mandeln nur geschaffen hätte, um angehenden Ärzten zu einer Operationsmöglichkeit zu verhelfen. Das ist wenig wahrscheinlich. Und ein weiterer Faktor kommt hinzu: In Deutschland wird die Ansicht vertreten, dass die Wirtschaftlichkeit bei Mandelentfernungen nur gegeben ist, wenn ein Spital pro Jahr mehr als 10 000 Eingriffe durchführen kann. Somit kann auch aus Gründen der Wirtschaftlichkeit (des Spitals) ein gewisser Druck entstehen, möglichst viele Tonsillektomien durchzuführen.
Bei chronischen Mandelentzündungen, die einen Streuherd darstellen, gehäuften eitrigen Mandelentzündungen (mehr als 3- bis 4-mal im Jahr) und wiederkehrenden Abszessen kann eine operative Entfernung der Mandeln als Ultima Ratio in einzelnen Fällen notwendig sein, wenn alle anderen vorbeugenden und heilenden Massnahmen versagt haben. Eitrige Mandelentzündungen klingen aber nach einigen Tagen wieder ab. Wenn sich auf den Mandeln gelbe Pfröpfe entwickelt haben, handelt es sich dabei aber nicht um Eiter, sondern um abgestossenes Gewebe, das mit Bakterien durchsetzt ist. Man kann dieses ausdrücken und entfernen.
Die Gaumenmandeln sollten jedenfalls nicht einfach leichtfertig herausgeschnitten werden, einfach „um Ruhe zu haben“. Wenn immer möglich müssen sie wegen ihrer Schutzfunktionen erhalten bleiben und ihre Dienste weiterhin versehen können. Der deutsche Arzt Max-Otto Bruker schrieb in seinem Buch „Ärztlicher Rat aus ganzheitlicher Sicht“ (emu-Verlag, Lahnstein 2001): „Die operative Entfernung der Mandeln ist immer falsch, denn sie stellen ein wichtiges Abwehrorgan dar. Kommt es zu häufigen Mandelentzündungen, so ist eine entsprechende Behandlung notwendig, die diesen Entzündungen vorbeugt.“ Dr. Bruker war einer der wenigen Ärzte, die das erkannt hatten.
Was kann man tun?
Zur Vorbeugung von Infektionen sollten die eigenen Abwehrkräfte gestärkt werden, schon im Kindesalter: Viel Bewegung an frischer Luft, gesundheitssportliche Betätigung ohne Übertreibungen und kein Aufenthalt in überheizten Räumen mit trockener Heizungsluft. Eine gesunde Lebensführung mit viel Früchten, Gemüse, frisch zubereiteter Nahrung, deren Wertstoffe wie Vitamine und Enzyme erhalten sind, können die Infektabwehr stärken. Zucker und Weissmehl sollten reduziert oder weggelassen werden, weil diese die normale Darmflora schädigen und die Infektanfälligkeit steigern. Dr. Bruker empfiehlt zur Behandlung der Infektanfälligkeit auch die Vermeidung von Kuhmilch.
Die Naturheilkunde bietet zudem eine spezielle, fast in Vergessenheit geratene Methode an. Im Rahmen einer Fernsehsendung („Puls“ von SF DRS) konnte die bekannte Naturheilärztin Heidi Schönenberger aus Trogen AR, ehemalige Präsidentin des SNE-Förderpreises (der Stiftung für Naturheilkunde und Erfahrungsmedizin), sinngemäss kurz erklären, man müsse auch chronisch entzündete Mandeln nicht unbedingt herausoperieren, sondern könne diese, selbstverständlich in Verbindung mit der Beseitigung der Entzündungsursachen, durch eine einfache Mandelpflege der Heilung entgegenführen.
Das Mandel-Rödern
Für interessierte Nutzer seien hier einige Angaben über die Pflege der Mandeln (Mandel-Rödern) angefügt, die uns Heidi Schönenberger (E-Mail: hschoenenb@bluewin.ch ) freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat:
„Die Grundidee ist, dass die Krypten und Lakunen der Gaumenmandeln von ihren Belägen und Ablagerungen gereinigt werden und sie ihre Rolle als lymphatisches Organ/Abwehrorgan wieder wahrnehmen können.
Es ist ein mechanisches Verfahren, wozu man einen kleinen Saugkopf (zu vergleichen mit einem kleinen Schröpfkopf) mittels Vakuum (durch einen aufgesetzen Ball) fest auf die Mandeln setzt und so deren Oberfläche absaugt. Durch die massierenden Bewegungen wird zusammen mit dem Vakuum Zug auf die Tonsillen ausgeübt und die Ablagerungen aus den Einbuchtungen herausgezogen. Das Mandel-Rödern wird vornehmlich in beschwerdefreien Phasen durchgeführt. Bei akuten Entzündungen besteht unter Umständen die Möglichkeit der Streuung von Krankheitsherden, was natürlich nicht erwünscht ist.“
Ergänzend teilte mir Heidi Schönenberger noch mit: „ Zur Selbstanwendung der Röder-Methode habe ich meine Bedenken. Die korrekte Handhabung dürfte recht schwierig sein. Damit sowohl die Anwendung als auch die Behandlungsindikation und -wirkungsweise ohne Nebenwirkungen durchgeführt werden kann, empfehle ich, eine Naturheilpraxis aufzusuchen. Möchten Sie es trotzdem selbst versuchen, können Sie in einer Apotheke nach einem Röderbesteck fragen. Welche Grösse der Saugglocke Sie benötigen, ist einerseits abhängig von der Mandelgrösse, anderseits von der Mundöffnung und dem Rachenraum.
Adresse
Heidi Schönenberger
kant. appr. Heilpraktikerin
Niderenweg 12
CH-9043 Trogen
Tel. +41 (0)71 344 47 69
Soweit die informativen Erläuterungen aus Trogen. Das vom Wuppertaler Arzt Heinrich Röder (1866−1918) eingeführte und nach ihm benannte Behandlungsverfahren ist ein Beispiel von sinnvoller Naturheilkunde, das unnötige Operationen und damit Eingriffe in ein austarierendes System, das möglichst unbeschädigt bleiben sollte, in den meisten Fällen verhindern kann. Selbstverständlich gibt es auch andere Methoden zur Mandelpflege und -reinigung.
F. Kraus aus Chemnitz (kfog[at]gmx.de) schrieb mir als Reaktion aufs Blog „Trotz Attacken unsterblich: Die Naturheilkunde“ (30. März 2005):
Die Gaumenmandeln manuell zu reinigen, finde ich sehr effektiv! Ich hab etwa ein halbes Jahr lang beim Zähneputzen immer kleine Ablagerungen im Mund entdeckt und mich gefragt, woher diese stammen. Bis ich dann eines Tages so eine Ablagerung an meinen Mandeln bemerkte. Diese sassen in den Löchern der Mandeln, und ich dachte gleich an eine Krankheit und lief zum HNO-Arzt. Dieser gab mir eine Myrrhe-Tinktur und sagte mir, dass er von einer Operation absehen möchte. Ich solle versuchen, mit einem Löffelstiel die Ablagerungen aus den Mandeln zu entfernen. Nun mache ich dies regelmässig, und ich finde, dass ich mich echt besser fühle.
Ähnlich ist es beim Rödern: Dabei wird bloss das schwammartige Gewebe der Gaumenmandeln, in dem sich Ausscheidungsprodukte sammeln, mit Hilfe eines gläsernen oder metallenen Saugkopfs abgesaugt und − im Rahmen einer Reflextherapie − ausmassiert. Die heute fast in Vergessenheit geratene Röder-Methode hatte sich in vielen Jahrzehnten bewährt. Das war allerdings damals, als die chirurgische Operationsinfrastruktur nicht so ausgebaut wie heute war. Und genau in dieser überdimensionierten Chirurgie-Infrastruktur liegt eine zusätzliche Gefahr: Sie muss benützt werden, und zudem sind Operationen sehr einträglich. Den Preis zahlen A. die Operierten und B. die Allgemeinheit.
Lassen Sie Ihren Mandeln gegebenenfalls so viel Pflege wie Ihrem Gebiss angedeihen. Sie werden es Ihnen danken.
Walter Hess
PS: Falls Sie Tips zu Mandelpflege kennen, lassen Sie mich diese bitte wissen! Vielen Dank für Ihre Mitarbeit im Interesse der Volksgesundheit.
[1] *ß-hämolysierende Streptokokken ( Gruppe A/Streptococcus pyogenes) kommen auf der Schleimhaut des Nasen-Rachen-Raums oder der Haut vor. Ihre Übertragung erfolgt durch Tröpfchen- oder Schmierinfektion. Erkrankungen: Haut- und Weichteilinfektionen, Erysipel, Phlegmone, eitrige Angina (Streptokokken-Angina) usw.
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