Verkehrskreisel als ein „Spiegelbild unserer Gesellschaft“
Autor: Walter Hess
Noli turbare circulos meos!
(Zerstöre mir meine Kreise nicht!)
Archimedes
Als „Spiegelbild unserer Gesellschaft“ bezeichnete der Ökologe Heiner Keller in der Zeitschrift „Natürlich“ 1996-11 die Verkehrskreisel, die damals gerade ihren Siegeszug angetreten hatten. Die Geburtsstunde dieser kreisrunden Verkehrsverteiler aber geht aufs Jahr 1925 zurück: Den ersten Kreisel nach Eugène Hénards Plänen soll es in der Londoner Innenstadt gegeben haben – allerdings ist das Jubiläum „80 Jahre Kreisel“, das in diesem Jahr 2005 fällig wäre, verbummelt worden. Mit Freundlichkeit und Handzeichen gewährte man sich beim Kreiseln in London Vorfahrt – heutzutage ist das klar geregelt. Erst 1966 wurde in England die „offside priority“ eingeführt: Die in den Kreisel einfahrenden Autos mussten jenen, die schon darin waren, den Vortritt lassen. Das Beispiel kreiste abschliessend um die Welt.
Gegenüber herkömmlichen Strassenkreuzungen mit oder ohne Lichtsignalanlagen oder gar mit leibhaften, hustenden Verkehrspolizisten mit entzündeten Augen haben Kreisel offensichtliche Vorteile. Der Verkehr fliesst eindeutig runder. Und Hustenreize sind seltener. Das aargauische Departement des Innern schrieb 1995 allen Motorisierten als begleitende Frohbotschaft zur unvermeidlichen Verkehrssteuerrechnung: „Kreisel haben bei kleinerem Platzbedarf eine grosse Leistungsfähigkeit, und zusätzlich wird die Verkehrssicherheit erhöht.“
Ja, der Verkehr ist uns sicher. Er kennt wohl Kreise, aber keine Krise, erfreut sich eines dauernden Aufschwungs. Alles ist Bewegung, alles ist in Bewegung und fast alle haben Freude an der Bewegung. Und das Schönste: Wer einmal im Kreisel ist, hat immer Vortritt; man kann darin stundenlang kreisen, ohne je einem anderen Motorisierten Platz machen zu müssen. So etwas weiss man zu schätzen.
Das Innere der Verkehrskreisel wird mit mehr oder weniger Geschick möbliert, Das Kreiselzentrum ist ein Tummelplatz für die Fantasie – keine Normung, keine Vorschriften, wenn ich richtig orientiert bin. Keller im Originalton: „Unbeschreibbar vielfältig sind Grösse und Gestaltung der Kreisel. Die Fläche in der Mitte kann sehr klein oder sehr gross sein. Minimal kennzeichnet nur eine schlanke Strassenlampe, ein Stein oder eine Markierung das punktförmige Zentrum. Praktisch ist nichts zu klein, ein Kreisel zu sein. Auf der anderen Seite der Möglichkeiten sind die riesigen Rundaugen in der weiten Landschaft Frankreichs: An Rundstrecken erinnernd, mehrspurig, verleiten sie richtiggehend zum mehrmaligen Kreiseln.
Dem individuellen Aussehen der Kreiselzentren scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Es gibt asphaltierte, zementierte und gepflästerte Kreisel, solche mit Abschrankungen aus Plastikpfosten, Steinen oder behelfsmässigen Barrikaden. Die meisten Kreisel sind eher luxuriös nach irgendwelchen Ideen gestaltet: Natur, Technik, Kunst und Kitsch, es gibt nichts, was es nicht gibt. Schliesslich zieren sie ja, modernen Stadttoren gleich, die vielbefahrenen Einfallsachsen in Dörfer und Städte.“
Selbstverständlich muss der Motorisierte vor allem das Verkehrsgeschehen beachten; er muss entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt zur Einfahrt in den Kreisel ist, beobachten, ob Fussgänger die Fahrbahn kreuzen, vor der Ausfahrt den Blinker bedienen usf. Und dann sollte er auch ein Auge für alle die Schönheiten im Kreiselinnern haben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Plakate aus verkehrssicherheitspolitischen Gründen bei Kreuzungen nicht bewilligt wurden, wenn Gefahr bestand, dass die Aufmerksamkeit des Autofahrers dadurch allzu sehr strapaziert wurde – etwa bei gewagten Strumpfreklamen, Zur-Schau-Stellungen von weiblichen Brüsten mit erotisierender Anziehungskraft und derartig Aufreizendem mehr. Jedenfalls kann selbst den Verkehrskreiseln, auch wenn sie, abgesehen von der Rundung, kaum etwas mit Erotik zu tun haben, die Gefahr eines Beitrags an die Reizüberflutung gelegentlich nicht abgesprochen werden.
Inzwischen ist es zur Norm geworden, „der autofahrenden Bevölkerung ein klein wenig vom vielleicht noch vorhandenen oder neuen Typischen einer Region zu präsentieren“, wie es Keller bereits 1996 angeregt hat. Mit den Kreiseln stellen sich die Gemeinden also dar; sie weisen auf ihre Besonderheiten hin – mit mehr oder weniger Geschick. In der Region Bözberg West, der Keller ein eigenes, gleichnamiges Buch gewidmet hat, gibt es einen hübschen Kreisel in Hornussen (im Fricktal, Bezirk Laufenburg), den eine überlebensgrosse Hornisse ziert, auf einem mit passenden Kalksteinen gestalteten Sockel übrigens. Der Hornusser Hornissenkreisel setzt also den typisch alemannischen Siedlungsnamen in Szene und macht gleichzeitig Reklame für ein bedrohtes Insekt und den nahen Rebberg, eine gelungene Sache.
Talabwärts (westwärts) befinden sich die nächsten Kreisel vor dem Dorfeingang von Frick. Zuerst begegnet man dem lapidar mit Rosen bepflanzten Kreisel und dann dem berühmteren Saurierkreisel. Der Marktflecken Frick ist auf seine Saurier-Vergangenheit und sein hervorragend gestaltetes Saurier-Museum aus guten Gründen stolz. Der Plateosaurier ist zu so etwas wie dem Logo der Gemeinde geworden, und ein wirklich schönes, kunsthandwerklich gefertigtes Exemplar steht in voller Lebensgrösse im Verkehrskreisel, wo sich Bözberg- und Staffeleggstrasse treffen, am Dorfeingang. Was aber schwer nachzuvollziehen ist, sind die Granitblöcke, die dem Saurier zu Füssen gelegt worden sind, ein Gruss aus den fernen Alpen.
Diese Materialwahl hat mich bei der Vorbeifahrt befremdet, denn die schweizweit einzigartigen Überreste des Sauriers im Museum wurden ja dem Fricker Kalksteinbruch entnommen. Eine Umgebung aus örtlichem dunkelgrauem Muschelkalk und Mergel (Ton und Kalk) hätte dem metallenen Koloss zweifellos besser behagt. Sie hätte selbstverständlich auch viel besser zur regionalen Identität gepasst: Will nicht gerade die Regionalorganisation dreiklang.ch mit ihren Hinweisen beim Kreisel die regionalen Stärken bewusst machen und fördern?
In Kellers Buch „Bözberg West“ spielt dieser Kreisel als westliche Regionsgrenze und auch als Beispiel für die Gefühllosigkeit bei den Materialanwendungen bei der Landschaftsgestaltung eine marginale Rolle: „Weder frisst der Saurier Granit, noch stammt er aus Granit, noch hat es in Frick Granit.“
Aber kürzlich hat man offensichtlich Granit dorthin gekarrt. Es ist heute kein Problem mehr, grosse Steine beliebig weit zu verfrachten – und deshalb sehen die Landschaften, soweit sie von menschlichem Gestaltungseifer geprägt sind, auch so aus. Es fällt nicht nur bei Frick, sondern praktisch überall auf, wie schwer sich Landschaftsgestalter mit dem nahe liegenden örtlichen Gestein tun, wie sie stillos Materialien mischen und keine Rücksicht auf erdgeschichtliche Zusammenhänge nehmen, selbst wenn so etwas wie ein urweltlicher Tiergarten nachgestaltet werden soll. Die Kreiselgestalter hätten sich bloss ins Sauriermuseum und/oder in den Fricker Steinbruch vorwagen müssen, um sich inspirieren zu lassen. Wahrscheinlich haben sie stattdessen einen Ausflug in die Alpenwelt durchgeführt.
Eine Zuversicht besteht: Weil der Granit so unverwüstlich ist, liesse er sich praktisch ohne Wertverlust wieder verkaufen. So müsste sich der 200 Millionen Jahre alte Saurier nicht an den Granit gewöhnen.
Die Kreisel sind fürwahr Spiegelbilder unserer Gesellschaft. Sie geben Auskunft darüber, was den Menschen bei der Verschönerung der Strassen wichtig ist. Sie lassen auf deren ästhetisches Empfinden schliessen, auf deren Geschmack. Sie zeigen, ob ein Naturverständnis da ist, ob die hier lebenden Leute einen Sinn für (erd-)geschichtliche Zusammenhänge haben, ob es da so etwas wie ein Einfühlungsvermögen gibt, oder ob das Friedhof-Gärtnerische triumphiert.
Die Kreisel sind Kulturobjekte, die ununterbrochen Besucherzuströme leiten. Ihr Inneres hat eine Sprache, eine Botschaft. „Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, wenn man ihn wohl zu pflegen weiss“, liest man bei Johann Wolfgang von Goethe (in „Zahme Xenien“, VII). Man lese richtig: fruchtbar, nicht furchtbar. Es tönt fast wie eine weise Vorahnung auf das, was einmal an Strassenknotenpunkten geschehen sollte und inzwischen geschehen ist. Das Furchtbare inklusive.
Hinweis auf ein Blog zum Thema
12. 09. 2005: „Belebende Töne in Dur: Die Regionalorganisation dreiklang.ch“
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