Röpke: Das masslos überdehnte „Mass des Menschlichen“
Autor: Walter Hess
Ein Stapel Bücher, die darauf warten, gelesen zu werden, gehört zu meinen treuen Begleitern. Die Beige ermöglicht mir jederzeit eine Reise in eine fremde Gedankenwelt, die mich gerade lockt, eine Form von Tourismus ohne mühselige Buchungen. In meinen Büchern ist schon alles gebucht, registriert.
Am gestrigen Spätsommerabend wählte ich das Wilhelm-Röpke-Brevier „Das Mass des Menschlichen“ (Ott Verlag, Thun, 1999), herausgegeben von Gerd Habermann. Dieses Buch hat mir der Aarauer Denker, Politiker und Philosoph Dr. Hans Letsch „in bester Erinnerung an frühere und neueste Gespräche“ Ende 2002 mit Widmung vermacht. Nachdem ich mich seither intensiv mit den Aspekten der vermassenden neoliberalen Globalisierung befasst habe, haben Röpkes Gedanken noch an Bedeutung gewonnen. Er war ein Freiheitsdenker wie Hans Letsch, ehemaliger Ständerat und Autor unter anderem des Buchs „Freiheitliche Ordnungspolitik“. Letsch, unabhängigkeits- und neutralitätsbewusst, lebt heute in Aarau eher zurückgezogen; dass er sich kaum noch vernehmen lässt, ist der einzige Fehler, den ich ihm anzulasten vermag. Denn sein demokratisch-politisches Wissen dürfte nicht verloren gehen; er müsste seine Stimme in dieser desorientierten Zeit viel häufiger erheben.
Manchmal braucht es eine gewisse Zeit der Nachreife, bis man ein Buch (oder einen grossen Denker) überhaupt verstehen kann. In Röpkes Gedankenwelt fühlte ich mich aber sofort daheim; sie kam mir vertraut vor. Ich begann im Röpke-Brevier auf Seite 178 zu lesen, wo das Kapitel „Falscher Internationalismus“ beginnt. Schon das 1. Zitat packte mich: „Mit wenigen rühmlichen Ausnahmen steht der Nutzen dieser internationalen Zentralisation in einem geradezu phantastischen Missverhältnis zu ihren Kosten, von ihrem eindeutigen Schaden nicht zu reden.“
Damit sprach mir der deutsche Nationalökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke (1899−1966) aus dem Herzen. Und selbstverständlich auch mit dieser Feststellung: „Was nützen die schönsten Pläne einer internationalen Ordnung, wenn die Seele jedes einzelnen in Unordnung ist, wenn die politische, wirtschaftliche und soziale Struktur der einzelnen Völker den Erfordernissen der internationalen Ordnung nicht entspricht, kurzum, wenn die moralische, geistige, politische, wirtschaftliche und soziale Krise unserer Gesellschaft nicht in ihrem ganzen Aufbau vom Individuum über die Familie, den Beruf, die Gemeinde bis zur Nation überwunden wird? Hiesse es dann nicht, den Bau eines Hauses beim Dache anzufangen, wenn man einem falsch verstandenen ‚Internationalismus’ huldigt, und muss man nicht vielmehr bei den Fundamenten beginnen? Was kann man unter diesen Umständen von internationalen Konferenzen und Konventionen erwarten? Ist das nicht das alte Papiergeraschel und Wortgeklingel, das die Welt während zweier Jahrzehnte satt geworden ist?“
Das sind grosse Worte, geschichtliche Dokumente, die ihre Bedeutung behalten oder gar gemehrt haben. Ja, wahrscheinlich sind sie heute gültiger denn je. Denn die verfluchte Globalisierung schreitet munter voran, als ob sie ein naturgegebener, jahreszeitlich bedingter Ablauf sei. Die Schäden und Opfer von der Naturzerstörung über Kriege zur Rohstoffbeschaffung und aus religiösen Verirrungen bis zur Arbeitslosigkeit und zum sozialen Unfrieden werden wie Schicksalsschläge unbekannter Herkunft hingenommen.
Wenn Röpke von der „missratenen Form“ der Marktwirtschaft sprach, vom „modernen Industrie- und Finanzkapitalismus mit seinen übermässigen Kapital- und Machtzusammenballungen, seinem Massenproletariat, seiner Zentralisierung, seiner Elephantiasis der Grossstädte und Industriereviere“, dann bezog er sich (wie mit all seinen Feststellungen) auf die Zustände vor der Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Und alles, was ihm damals missfiel, hat sich inzwischen noch akzentuiert. Würde er noch Worte finden, um die Missstände innerhalb der gegenwärtigen Globalisierung adäquat zu beschreiben? Sie ist ein schleichender Vorgang, bei dem alles fusioniert wird, was zu fusionieren ist (sogar Alpgenossenschaften wie jene von Latsch/Stuls und Bergün GR), und die auf einen vereinheitlichten, vermassten, bigotten Kolossalstaat unter skrupellosem US-Management zusteuert?
Wir brauchen Menschen, die sich dagegen auflehnen und das Grossartige, das der Kleinheit innewohnt, erkennen und darauf hinweisen.
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01. 02. 2005: „WEF 2005: Schminke über Globalisierungspleiten“
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