Textatelier
BLOG vom: 13.03.2006

Das einstimmige Lied des Westens am Totenbett Milosevics

Autor: Walter Hess
 
Die Medien der Wertegemeinschaft singen wieder einmal in wunderbarer Einstimmigkeit: „Milosevic gilt als Totengräber Jugoslawiens“ („Aargauer Zeitung“), „Der ‚neue Tito’ als Totengräber“ („Netzzeitung“), „Der Totengräber Jugoslawiens“ („ZDF“). „Der Totengräber Jugoslawiens“ (news.de) – und so weiter und so weiter. Ich breche die Aufzählung gerade noch rechtzeitig hier ab, um die Nutzer nicht gleich in der Einleitung zu vertreiben. Die Medien schwangen sich wieder einmal zu publizistischen Meisterleistungen auf, die alle mit den gleichen Worten unter dem gleichen Titel und bei den gleichen Weglassungen den Abgang Milosevics beschreiben.
 
Man wird von mir nicht erwarten, dass ich in diesen Gregorianischen Choral der Mainstreammedien einstimme, und Slobodan Milosevic will und kann ich auch nicht reinwaschen. Ich erlaube mir in diesen Trauerstunden bloss einige zaghafte Fragen: Wird unsere Uno-Chefanklägerin Carla Del Ponte jetzt, nachdem sie ihren besten und treuesten Kunden verloren hat, frei, um sich endlich den noch im Amt befindlichen Regierungschefs, die sich übers Völkerrecht hinwegsetzen und Flächenbombardements und Folterungen in fremden Ländern veranstalten, anzunehmen? Bitte tun Sies! Oder gibt es etwa allein in Serbien Kriegsverbrecher? Hat das, was zum Beispiel in Tschetschenien passiert, nicht eine verblüffende Ähnlichkeit mit der neueren serbischen, kroatischen, bosnischen und kosovarischen Geschichte?
 
Bis Ende der 1980er-Jahre traten die Westmächte für die Beibehaltung von Gesamtjugoslawien ein, bis ausgerechnet in Deutschland eine zunehmende propagandistische Verunglimpfung Jugoslawiens veranstaltet wurde, auf deren Grundlage 1991 die deutsche Regierung die einseitige Anerkennung von Kroatien und Slowenien beschloss und insbesondere die Regierung in Zagreb mit finanziellen Zusagen und Waffenlieferungen zur Abspaltung trieb. Es kam in allen abtrünnigen Provinzen zu fürchterlichen Gemetzeln, die der Nationalist Milosevic zu seinen Gunsten zu entscheiden suchte, d. h. im Interesse eines einheitlichen serbischen Grossreichs, wie es ja eigentlich zum Geschehen im Rahmen der neoliberalen Globalisierung mit ihren Vereinheitlichungstendenzen passen würde. Der damalige US-Präsident Bill Clinton stellte sich 1993 hinter den zunehmend antiserbischen Kurs des Westens, was 1999 im Nato-Angriff auf den unabhängigen Staat Serbien gipfelte. Um zu zeigen, wer auf dieser Welt das Sagen hat. Diese Intervention mit den vielen zivilen Schäden würde eine juristische Aufarbeitung verdienen. Aber noch ist nicht einmal die Zerstörung und Vergiftung von Vietnam durch die USA aufgearbeitet. Damit sollte sie ihr Advokatenheer beschäftigen.
 
Die jüngere Geschichte wurde hier nur höchst rudimentär wiedergegeben. Aber bereits aus diesen wenigen spotlichtartigen Details, so scheint mir, müsste die Einsicht erwachsen, dass es zwingend wäre, Milosevics Taten in solche Zusammenhänge zu stellen. Die frühere Geschichte Jugoslawiens hat nichts mit Milosevic zu tun, auch wenn sie immer noch nachwirkt: Der Erste Weltkrieg begann mit dem Überfall von Österreich und Deutschland auf Serbien, und im Zweiten Weltkrieg (April 1941) überfielen die Nationalsozialisten Serbien, ohne Kriegserklärung notabene.
 
Der von Edelmut geprägte Westen sollte sich vor solch einem Hintergrund nicht allzu sehr aufspielen und vielleicht einige Vergleiche wagen. Aus dem FAZ-Nachruf auf den Dahingegangenen: „Als Präsident von Serbien beziehungsweise seines selbst gebauten Klein-Jugoslawiens (bestehend nur noch aus Serbien und Montenegro) stützte er (Milosevic) sich auf Geheimdienstler, einen willkürlichen Justiz- und Polizeiapparat und die staatlichen Medien.“
 
Natürlich gab es Geheimdienstler nur in Serbien, und auch von willkürlichen Justiz- und Polizeiapparaten hat man von anderswoher insbesondere aus dem Reich des Guten ennet des Atlantiks noch nie etwas gehört ... (PS: Soeben enttarnte die Chicago Tribune 2653 CIA-Mitarbeiter, geheime Flüchtlingslager, Scheinfirmen und CIA-Einrichtungen und -Flugzeuge.)
 
Weiter im FAZ-Text: „Milosevic versuchte seine Gegner nach allen Regeln der Kunst einzuschüchtern, zur Not in einigen Fällen wohl auch gewaltsam zu beseitigen wie seinen einstigen Förderer Ivan Stambolic.“ Wieso nur kamen mir da gerade Guantánamo und andere ZS-Foltergefängnisse und die Aussetzung von Kopfgeldern nach Wildwestmanier in den Sinn?
 
Die FAZ differenzierend: „Denn Milosevic spielte mit dem Instrument des Nationalismus, er war ein skrupelloser Organisator der Kriege im Namen Grossserbiens, der bedenkenlos über Leichen ging – aber ein grossserbischer Nationalist war er nicht.“ Mir sind in letzter Zeit noch einige skrupellose Organisatoren von Kriegen und Leichenbergveranstalter aufgefallen, die als Mitglieder der Nato-unterstützten Wertegemeinschaft leider allesamt noch auf freiem Fuss sind.
 
Ich möchte hier nur höflich um eine differenziertere Berichterstattung abseits des gängigen Gut-und-Böse-Schemas ersuchen.
 
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