BLOG vom: 18.03.2006
Menschenversuche: TGN-1412-Opfer. „Der Verflüssigte“
Autor: Emil Baschnonga
Kürzlich wurden klinische Versuche mit TGN-1412 an 8 Freiwilligen im Northwick Park Hospital in Harrow (England) durchgeführt. 6 von ihnen erkrankten heftig, 2 von ihnen liegen im Koma, und 2 entkamen, weil ihnen ein Placebo verabreicht wurde. Die Presse hat über diese tragischen Fälle hinreichend berichtet. Ich kann dazu nichts hinzufügen ausser: Seien Sie vorsichtig und werden Sie ja nie ein Versuchskaninchen! Die Medikamente enthalten allgemein viel zu viele Gift- und Schadstoffe.
Einfach, weil TGN 1412 das Cholesterin abbauen sollte, erinnere ich mich an eine Kurzgeschichte, die ich 1974 geschrieben habe. Ich habe sie in meiner Schublade wieder gefunden. Hier ist sie, unverändert wie damals geschrieben unter dem Titel:
Der Verflüssigte
Misstrauisch las Herr Wechsler das von Hand beschriftete Etikett: „Löst Gallensteine auf, verflüssigt das verhärtete Cholesterin“. Sein imaginär neu entdecktes Leiden hielt ihm, wie die bisherigen heil überstandenen, für sicher nur die Langeweile vom Leibe.
Ein Freund und Leidensgefährte hatte ihm den Alten mit dem Vorbehalt empfohlen, dass er sich nicht an dessen raue Umgangsformen zu stossen brauche, denn das Unikum kenne nebst den Heilkräutern auch alle chemischen Substanzen von Belang.
Im Anbau einer Mietskaserne aus der Vorkriegszeit, einer ehemaligen Waschküche, trug er dem Hexenmeister sein Anliegen vor.
„7-0-5 kostet die kleine Kurpackung“, sagte der Alte schroff und äffte Herr Wechslers Zwischenbemerkung „So viel!“ nach. Die Finger des Alten trommelten dabei ungeduldig auf der Tischplatte, und abgehakt fügte er hinzu: „Inflation – Rohstoffe knapp – Forschung teuer.“
Herr Wechslers Scheine wischte er ungezählt in die Schublade, ehe er ihm das tatsächlich sehr kleine Fläschchen mit der Wunderarznei aushändigte. „Sparsam gebrauchen, 3 Tropfen einmal täglich und kein …“ Aber Herr Wechsler war schon bei der Türe angelangt.
Die 3 Tropfen nahm Herr Wechsler nach bewährter Art auf einem Stück Zucker ein. Das Zeug schmeckte nach nichts. Ein teurer Spass, ärgerte er sich. Dazu hatte er sich erst noch einen Schlappen draussen in einer Pfütze gezogen und musste die Socken wechseln. Nach wiederholtem Niesen entschied er sich für einen Cognac, gefolgt von einem heissen Bad.
Kaum stand er in der Wanne und wollte sich eben schonend ins heisse Wasser setzen, rutschte sein Körper, wie ein Schiff vom Stapel gelassen, ins Vollbad. Der Schmerz trieb ihn halbwegs hoch, und er bekam den Kaltwasserhahn wohl in die Hand, doch nicht in den Griff. Alle seine Muskeln erschlappten, und rücklings klatschte er ins Wasser zurück und schlug sich dabei den Kopf auf dem Wannenrand auf.
Schlimme Hirngespinste suchten den Wehrlosen auf seiner Irrfahrt zwischen Ohnmacht und Bewusstlosigkeit heim. Im Alptraum sah er, wie sich der Alte anschickte, seine – Herr Wechslers – weichgeklopften Körperteile kurzerhand zu den Geldscheinen in die Schublade zu schütten. Seine Haut warf er achtlos wie einen Balg in den Abfalleimer. Jäh erwachte Herr Wechsler und schrie zutiefst erschrocken auf. Fröstelnd entstieg er der Wanne, bemerkte und rieb seine Beule mit reumütigem Blick auf das geleerte Glas.
Zerschlagen erwachte er anderntags pünktlich nach eingetrichtertem Zeitempfinden eine Stunde vor Arbeitsbeginn. „An diesem faden Zeug kann es nicht gelegen haben“, schüttelte er das Fläschchen und nahm die vorgeschriebenen 3 Tropfen mit einem Teelöffel Wasser ein. Bekanntlich hilft Alkohol am wirksamsten gegen die üblen Nachwirkungen des Alkohols. Also schenkte sich Herr Wechsler ein den Umständen angemessenes Quantum Cognac ins Glas.
Wieder durchrieselte ihn Gluthitze. Beim Treppengeländer versagte seine Kraft genau wie gestern im Bad. Seine Beine sackten ein. Bei verebbendem Bewusstsein musste er miterleben, wie er zerfloss. Langsam, doch unaufhaltsam floss sein Oberkörper über 3 Stufen tief, während seine Beine zwischen den Geländerstäbchen durchsickerten. Dank seiner Kleider behielt seine leblos hingegossene Masse eine gewisse Körperähnlichkeit. Knapp eine halbe Stunde später verfestigte sich der Leblose merklich, regte sich und erwachte, zutiefst über seine missliche Lage erschrocken. Wie er sich auch wand, beide Beine blieben fest zwischen den Stäbchen eingeklemmt. Dass sein Körper in Fluss geraten war, das hatte er sich nicht bloss eingebildet.
Mit einer Gewaltsanstrengung befreite er sich endlich krachend und splitternd aus der Holzfalle. Der Lärm trieb den Hausmeister aus seiner Parterrewohnung. „Bin ausgerutscht“, erklärte ihm Herr Wechsler geistesgegenwärtig. Der Hausmeister näherte sich ihm, besah sich den Schaden und begann zu schnuppern. „Eine Fahne hat der Mensch am frühen Morgen“, konstatierte er verblüfft und fügte gehässig hinzu: „Und will zur Arbeit ins Steueramt …“. Herr Wechsler überhörte den Kommentar und sagte steif: „Schicken Sie mir nur die Rechnung.“ Laut erkundigte sich eine Frauenstimme, was los sei. „Nichts, Emma, nichts“, beschwichtigte er sie. Herr Wechsler bekam von ihm noch zu hören: „Wenn Sie eine Frau hätten, wäre das bestimmt nicht passiert.“
Es beliebt der menschlichen Natur, gemischt aus Neugier und Eigenliebe, diese beiden Triebkräfte allgemein zum besten Nutzen der Person einzusetzen. Herr Wechslers Vermutung verdichtete sich zur Gewissheit. Nahm er die Tropfen ohne Alkohol zu sich, geschah ihm nichts. Die Menge Alkohol jedoch beeinflusste den Grad seiner Dünnflüssigkeit. Etwa nach Ablauf einer Stunde verfestigte sich sein Körper wieder nach Alkoholkonsum, stellte er bei umsichtig vorbereiteten Selbstversuchen fest. Er litt auch kaum an nennenswerten Nachwirkungen, ausser jenen vom Alkohol ausgelösten, was seiner Experimentierfreude Vorschub leistete.
Bereits hatte er über die Hälfte des kleinen Fläschchens, nebst etlichen grossen anderen Inhalts, aufgebraucht – und er wusste noch immer nicht, welchen praktischen Nutzen er aus seinem Elixier ziehen konnte. Ausserdem musste er darauf achten, dass er seine Körperfeste in unbeengtem Raum zurückgewann. Die im Treppenhaus gemachte Erfahrung bestätigte sich, als er, von der schräg gestellten Tischplatte programmgemäss in den darunter aufgestellten Jutesack floss, woraus er sich nachher nur dank des vorsorglich aufgeschlitzten Stoffs einigermassen leicht aus der Engnis befreien konnte. Sein Lebendgewicht, ob verflüssigt oder nicht, blieb statisch. Auf die Reissfestigkeit seiner Haut wollte er sich keineswegs verlassen und verzichtete deswegen auf Stichproben.
Wiewohl er keinen praktischen Nutzen aus seinen Experimenten für sich selbst ableiten konnte, schwelgte er im Hochgefühl, eine einzigartige Fähigkeit erworben zu haben. Sein Selbstbewusstsein festigte sich merklich, selbst im Umgang mit seinen Vorgesetzten.
Eines Tages kam es, wie es musste: Das Fläschchen war leer. Der Alte sollte es ihm diesmal mit einer grossen Kurpackung von „7-0-5“ ersetzen, sogar bis zu „15-1-0“. So machte sich Herr Wechsler auf den Weg zu ihm. Daraus wurde aber nichts, wie der Alte sagte: „Forschung unerschwinglich – Rohstoffe unauffindbar – aufgegeben – auf Akupunktur verlegt“. Kein Zureden half. Der Alte blieb taub und ärgerte sich schliesslich. Auf keinen Fall durfte er es mit ihm verderben. So lenkte er beschwichtigend ein und willigte in eine Behandlung gegen Nackenstarre ein. Herr Wechsler ist gegenwärtig noch immer beim Alten in Behandlung.
PS. Weder TGN 1412 noch 7-0-5, dies ist mein Rat.
Hinweise auf Blogs über Medikamente
31. 07. 2005: „Das süsse Milliardengeschäft mit den Zuckerkranken“
25. 07. 2005: „Nicht die Gewinne von Big Pharma sind unethisch ...“
05. 07. 2005: „Kranksein als Bürgerpflicht: Therapieren statt heilen“
09. 04. 2005: „Risiko-Vermarktung: Zuerst Vioxx, dann Celebrex“
25. 02. 2005: „Pralle Pipeline: Generika oder neue Medikamente?“
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