BLOG vom: 25.03.2006
Durch die Latten: Vergesslichkeit am Perser-Neujahr
Autor: Emil Baschnonga
Zum Thema Vergesslichkeit habe ich mir Etliches vorzuwerfen. So auch gestern. Sehr oft gelingt es mir, etwas, das ich vergessen habe, wieder aus dem Gedächtnis zu fischen. Heute schnüffle ich vergebens meiner gestrigen Gedankenfährte nach. Nach dem Abendessen sagte ich zu meiner Frau: „Ich habe einen Blog-Einfall, aber sage dir nicht worüber.“ Manchmal macht es mir Spass, rätselhaft zu bleiben.
Noruz
Gestern hatte ich wacker Papiere, die sich überall gestapelt haben, aufgeräumt, und ich erntete Lob für diese gute Tat – nach vielen Ermahnungen meiner Perserin (meine Frau stammt aus dem Iran). Wir alle kennen die „Frühlingsputzete“. Aber in unserer Familie heisst diese Prozedur „Khaneh Tekani“ als Vorbereitung zum persischen Neujahr (Noruz), offiziell am 21. März. Der persische Begriff „Khaneh Tekani“ heisst übersetzt „das Haus schütteln“, um es vom Gerümpel zu befreien und Platz für neue Sachen zu schaffen. Der Auftakt zum Neujahr heisst „Tahvil“ und beginnt genau mit dem Frühlingsbeginn (Equinox), dieses Jahr 2006 am 20. März, minutengenau abends 6 Uhr 25 in England.
Weisse Hyazinthen im Topf beim Eingang zeigen schon ihre Perlenblüten. In einer Schale im Wohnzimmer ist die Linsensaat aufgegangen und gleicht Gras oder Petersilie, wie sie jetzt eben im Garten nach dem Winter hochspriessen. Sie sind Symbole der Erneuerung.
Aber darüber wollte ich eigentlich nicht schreiben. Das persische Neujahr muss als Verlegenheitslösung herhalten. „Haft“ auf persisch heisst 7, bestehend aus 7 Neujahrssymbolen. Dazu gehört auch der Austausch kleiner Goldmünzen – „Pahlevi“ (Name des letzten Schahs), wie sie vor der letzten Revolution genannt wurden –, unter Familienangehörigen als Symbole für Gesundheit und Wohlstand.
Das persische Neujahr dauert 13 Tage. Am 13. Tag – „Sizdeh bedar“ – verlassen die Perser ihre Häuser und nehmen draussen ein Picknick ein. So kann das Haus nicht über ihren Köpfen einstürzen.
Für mich genügte eigentlich ein einziges Neujahr, doch halte ich mit und freue mich mit. Am heutigen Samstag gehen wir, wie wir es gewohnt sind, persisch essen. Das freut mich ganz besonders, weil zum Neujahrsfest viele Leckerbissen aufgetischt werden.
Heute werde auch ich 3 Mal unter diesem langen Seidenrundband „Ghaliassin“ hindurch gehen – zum Schutz und Gedeihen. Unter diesem ehrwürdigen Band, mit vielen Suren-Versen aus dem Koran beschrieben, sind zuvor viele Generationen hindurch gegangen. Gern schicke ich mich aus Respekt in diesen Brauch, wiewohl ich nicht religiös veranlagt bin.
*
Vergeblich hoffte ich, dass inzwischen mein gestriger Einfall aufleben würde. Am Abend hatten wir Salm mit Mayonnaise und Salzkartoffeln gegessen. Ich legte anschliessend eine Schallplatte auf – einige Haydn-Symphonien. Ich sollte sie mir nochmals anhören. Vielleicht können sie meine Erinnerung schüren.
Die Vergesslichkeit mit Gesichtern
Beim Aufräumen der Papiere rempelte mich ein Gedanke an. Warum vergesse ich so leicht Gesichter? Täglich begegnen wir bis zu 200 Gesichtern, habe ich irgendeinmal gelesen. Ich musste grinsen, wie ich mich dabei an eine meiner eigenen Kurzgeschichten erinnerte. Ich will sie jetzt nicht in der Schublade aufstöbern, denn auf mein Gedächtnis ist noch immer hinreichend Verlass. So skizziere ich den Inhalt so:
Blinde Stelle
An einem Donnerstagmorgen, kurz nach 7 Uhr, ging er schlaftrunken ins Badezimmer, wusch blindlings sein Gesicht, bürstete die Zähne und begann, sich zu rasieren. Er setzte den Rasierapparat wie gewohnt auf der linken Gesichtshälfte an. Dazu brauchte er keinen Spiegel. Seine Fingerbeeren überprüften die Qualität seiner Rasur.
Erst als er den Apparat weglegte, schaute er in den Spiegel. Er traute seinen Augen nicht: sein Gesicht fehlte! Selbst als er die Brille aufsetzte, blieb sein Gesicht verschwunden mitsamt Brille … „Komisch“, murmelte er und rieb sich die Augen. Er bemerkte im Spiegelbild seinen offenen Hemdkragen ohne Halsansatz.
Er band sich jeweils die Krawatte erst nachdem er den Morgenkaffee getrunken hatte. Er musste unbedingt seinen gewohnten Morgenkaffee haben, mit oder ohne Gesicht – das war ihm jetzt Einerlei.
Nachher trat er mit dem Halsgebinde wieder ins Badezimmer. Der Spuk hielt an. Dennoch begann er seine Krawatte mit einem Doppelknoten zu schlaufen.
Jetzt will ich meine Skizze rasch beenden und suche nach einem neuen kurzen Ende:
Er zog den Knopf seiner Krawatte satt. Da er weder Gesicht noch Hals sah, merkte er nicht einmal, dass er sie so satt zog, dass ihm die Luft ausging.
Dies ist zwar ein trauriges Ende und keineswegs zum Lachen. Für diesmal verzichte ich ausnahmsweise der Kürze wegen auf ein gutes Ende.
*
Ich rede mir ein, dass ich weder Gedanken noch Gesichter leicht vergesse. Ich erinnere mich sogar an mein eigenes Gesicht. Die Gesichter aus der Vergangenheit, etwa jene meiner Schulkameraden, sind wie tiefgefroren in meinem Gedächtnis erhalten geblieben: Sie sind nicht gealtert. Begegnete ich einem heute auf der Strasse, würde ich ihn nicht wieder erkennen. Und er mich wohl auch nicht.
Beim Einkaufen beachte ich die Gesichter der Verkäuferinnen und Verkäufer kaum, es sei denn, ich betrete den gleichen Laden regelmässig oder wenn ich es mit besonders aufmerksamen Leuten zu tun habe. Letzteres bleibt haften, weil selten. Zu einer weiteren Ausnahme gehören auch Käuze. Sie fallen aus dem Rahmen und fallen mir deswegen auf. Nur trifft man sie nicht alle Tage.
In der Regel braucht es für mich einen Gedankenaustausch, damit ich mir das Gesicht einpräge. In dieser Galerie der Gesichter finde ich Halt, wenn ich eine Geschichte schreiben oder über ein Erlebnis erzählen will.
*
Das alles hat mir nicht weitergeholfen: Der gestrige Einfall ist verschollen. Ich beklage nicht so sehr diesen Verlust als dass mein Gedächtnis mir ein Schnippchen gespielt hat. Dieser Text hat mir aus der Patsche geholfen.
PS. Jetzt, in diesem Augenblick, ist mir eingefallen, dass ich tatsächlich über den Noruz berichten wollte, und dies meiner „Perserin“ gegenüber verschwiegen hatte …
Hinweis auf weitere Blogs zum Jahres-Brauchtum
14. 02. 2006: „Von Amerikanern, vom Valentinstag und Nachahmungstrieb“
24. 12. 2004: „Weihnachtsbräuche (I): Süsser die Glocken nie klingen“
25. 12. 2004: „Weihnachtsbräuche (II): Das Küssen unterm Mistelzweig“
Hinweis auf weitere Blogs von Baschnonga Emil
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Der vermeintliche Obdachlose
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