BLOG vom: 22.03.2006
Die innovativ Brodelnden und ihre Lehm- und Lähmschichten
Autor: Walter Hess
Die Veränderungen gehen auch am Arbeitsplatz viel zu schnell; man kommt kaum noch mit, nur schon beim Zuschauen. Ich erinnere mich noch, als mir in der Mitte der 1980er-Jahre der Computergebrauch höflich nahegelegt wurde. Ich empfand das als zusätzliche Aufgabe, zumindest die Einführungsphase. Ich leitete eine Zeitschrift, die sich ausserordentlich schnell entwickelte und meinen vollen Einsatz erforderte, und das liess mir kaum Zeit für technische Spielereien. Doch es musste sein. Bald spürte ich, dass der Computer auch zur Rationalisierung des Schreibens und Redigierens beitrug. Ich freundete mich mit ihm an und bin seither, dank ständiger umsorgender Unterstützung und Förderung aus dem High-Tech-Sektor meines engeren Familienkreises, beinahe an der Spitze der Entwicklung.
Doch der Computer, der heute an etwa 66 % der in der Schweiz noch verfügbaren Arbeitsplätze herumsteht, ist nicht das einzige, was sich an Neuerungen eingestellt hat, wenn auch nicht von einem Tag auf den anderen. Es gab auch andere neue Technologien wie die Automatisierung und Roboterisierung, zudem die fürchterlichen Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung (Ausrichtung auf ein kurzfristiges sowie -sichtiges Ertragsdenken). Neue Märkte taten sich in aller Welt auf, und der Wandel vom verarbeitenden Gewerbe zur ausgesprochenen Dienstleistungsgesellschaft (75 % der Schweizer sind inzwischen in diesem Sektor tätig) setzte ein.
Nach den Ausführungen des Staatssekretärs für Wirtschaft (seco, Bern), Joseph Weiss, steigt das Arbeitstempo ständig, die Prozesse beschleunigen sich. Und das führt zu Stress, weil oft ein Mangel an finanziellen, fachlichen und zeitlichen Kompetenzen besteht. Die Menschen fühlen sich quer durch alle Hierarchien als ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen, überfordert; die psychophysiologische Beanspruchung wird übermächtig, erdrückend. Zudem gibt es die ständige Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, begleitet vom zunehmenden Mobbing auf allen Stufen, besonders ausgeprägt Krankheitswesen, im sozialen Bereich (etwa in Heimen) und an Schulen. Der Alkoholismus im Betrieb ist ein Indiz für das Fluchtverhalten.
Solche Erkenntnisse vermittelte die Tagung „Machen Technik und Innovation krank?“, die am 21. März 2006 in einem trost- und fensterlosen Raum bei Neonlicht im Technopark in Zürich stattfand, aber immerhin viele Geistesblitze aufleuchten liess. Olaf J. Böhme von der Idee-Suisse, der Schweizerischen Gesellschaft für Ideen und Innovationsmanagement (www.idee-suisse.ch ), leitete den von rund 50 Personen besuchten Anlass kompetent und angenehm. Und Heinz Oftinger vom mitveranstaltenden Verein ReGeMo (Respekt und Gesundheitsförderung statt psychosozialer Stress, Mobbing und Gewalt; Internet: www.regemo.ch) brachte vieles von seinem breiten Wissen ein, das auch Aspekte aus der Massenpsychologie umfasst: Der Mensch sei gern in der Mitte der Herde; er folge noch den archaischen Mustern und wehre sich gegen Unbekanntes.
In den beunruhigten (innovativen) Unternehmen bestehen trotz all des Trends zum Massenhaften Hierarchien, eine obere und eine untere, und dazwischen gibt es eine von beiden Seiten aus undurchdringliche Lehmschicht, die gleichzeitig auch eine Lähmschicht sei, wie Oftinger sagte. Und für die daraus entstehenden Unzulänglichkeiten würden dann „Technik“ und „Innovation“ als Ausreden missbraucht. Ich wagte das dahingehend zu untermauern, dass vor lauter ungestümem Innovations-Draufgängertum oft gerade auch noch Erfahrungen und bestehende Werte entsorgt werden, was die Türen zu überstürzten Neuerungen öffnet und am Ende zwangsläufig ins Debakel führt. Und dann müssen eben weitere Innovationen her. Das Debakel nimmt seinen Lauf und ruft ein Betreuungsgewerbe auf den Plan, das noch zu retten hat, was allenfalls noch zu retten ist.
Zu den gravierenden Fehlern des neoliberalen Geschehens mit seinem grossen Zerstörungspotenzial gehört auch die rücksichtslose Vernichtung menschlicher Ressouren durch die Abschiebung oder Frühpensionierung der älteren Generationen. In naher Zukunft wird die Baby-Boomer-Generation pensioniert sein, und der Nachwuchs fehlt grossenteils. Diese Abschiebung beziehungsweise folgenschwere Vernichtung von Humankapital hat dazu beigetragen, dass 21 % der vor dem Pensionierungsalter stehenden Männer bereits eine Invalidenrente (IV-Rente) beziehen. In Zukunft wird ein Mangel an Fach- und Arbeitskräften bestehen, und die Menschen werden bis in ein höheres Alter hinein arbeiten müssen, immer vorausgesetzt dass bis dahin nicht alle wegfusioniert beziehungsweise wegrationalisiert sein werden.
Soweit einige eigene Gedanken. Joseph Weiss seinerseits machte auf die herbeigeredeten gerontologischen Defizite aufmerksam: Alte werden immer schwächer und langsamer, haben mehr Absenzen und verblöden. Das alles treffe überhaupt nicht zu, sagte er. Und auch in anderen Vorträgen, zum Beispiel in jenem von Katharina Walser (Schweizerischer Verband für betriebliche Gesundheitsförderung SVBGF) wurde aufgrund statistischer Erfahrungswerte erklärt, dass die Alten kaum mehr Absenzen als die ganz Jungen haben.
Am Beispiel der grössten Schweizer Papierfabrik M-real in Biberist (vormals schlicht und verständlich: Papierfabrik Biberist), die heute einem finnischen Konzern gehört, zeigte Katharina Walser Wege auf, um arbeitsbedingten Krankheiten und einer vorzeitigen Pensionierung vorzubeugen: Sie betreibt ein Abwesenheitsmanagement (Berufsunfallverhütung) und ein Anwesenheitsmanagement (Verminderung der Ausfallquoten). Jede Abwesenheit wird analysiert, und es werden Massnahmen getroffen, damit solche Ausfälle reduziert oder verhindert werden können, allenfalls auch durch Entlastungen.
Nicht nur die Papiermaschinen der Fabrik mit dem innovativen Namen laufen immer schneller (1 km pro Minute), sondern die Veränderungen in der Wirtschaft tun es auch. Bei diesen Beschleunigungen und verunsichernden Kapriolen, die oft schwer zu ertragen und zu erklären sind, bilden sich Folgen wie Stresserkrankungen und das Burnout-Syndrom heraus; dieser amerikanische Ausdruck (Ausgebranntsein) sei weniger stigmatisierend als Depression, sagte Dr. med. Rolf Oberhänsli von der Klinik „Schützen“ in Rheinfelden AG. Es stellen sich Erschöpfungen ein, aus denen man kaum noch herausfindet, und selbst Erholungsphasen wie Ferien bringen keine Erholung mehr. Es kommt bei den Betroffenen zu Dehumanisierungen, Entpersönlichungen, wie in Thomas Manns Beschreibung eines Senators, der seine Repräsentationspflichten zwar noch erfüllt, aber nichts mehr spürt, nichts mehr empfindet.
Der Referent beschwor Kohärenzgefühle (nach Antonovsky) durch passende Fragen herauf: Verstehe ich, was in meinem Umfeld geschieht? Habe ich Einfluss auf das Geschehen und kann ich dem Ganzen einen Sinn zuordnen?
Das dürfte in der innovativen Praxis schon beinahe unmöglich sein, wie ich beifügen möchte. Und dann braucht es laut Oberhänsli eben eine soziale Integration und eine emotionale Unterstützung, die auch von den Angehörigen kommen kann, aber auch ein gutes Selbstwertgefühl und eine spirituelle Verankerung, wo immer diese auch sein möge. Der Mensch brauche eine Aufgabe und wolle ein Teil des Ganzen sein.
Franziska Bischof-Jäggi von der Familienmanagement GmbH in Zug führte solche Gedanken zur Work-Life-Balance weiter. Es sei nötig, das Leben und die damit verbundenen Aufgaben richtig zu gewichten, sich nicht in Bagatellen zu verlieren und ins Gleichgewicht zu bringen, damit Raum und Zeit für Unvorhergesehenes und Entspannung bleiben. Lebenskunst auf dem Schwebebalken.
Der Däne Ole Petersen von der Firma „fit im job AG“, Winterthur, ging von der Erkenntnis aus, dass sich der Homo sapiens noch nicht einmal an die sitzende Lebensweise angepasst habe. Und so hat er sich auf die Propagierung von gesundheitsfördernden Minipausen am Arbeitsplatz spezialisiert. Der Computer meldet dem Gestressten, wenn die Zeit zum Trinken von etwas Wasser wieder gekommen ist und dass man die Arme etwas in die Höhe oder auf die Seite bewegen sollte, wenn man längere Zeit wie ein Nussgipfel vor dem Bildschirm gesessen hat. Und die betreuungsbedürftige Gesellschaft, die ihre eigenen Bedürfnisse offenbar kaum noch wahrnehmen kann, bedarf auch der Humor-Gaben, über die Prof. Dr. Willibald Ruch vom Psychologischen Institut der Universität Zürich wissenschaftlich referierte, allerdings ohne kabarettistische Einlagen, seine eigene Theorie in Frage stellend. Es ging tatsächlich ohne. Viele US-Firmen beschäftigen einen Humorberater, berichtete Ruch, die zum Beispiel dann zum Einsatz kommen, wenn an Sitzungen Spannungen entstehen.
Man solle etwas mehr tun als nötig, sagte Mitveranstalter Heinz Oftinger, ein Motivator mit Talent, am Schluss der Tagung. Ferner sollte der Respekt überall thematisiert werden. Es seien Ziele zu stecken und mit Hilfe einer positiven Unternehmenskultur anzustreben.
Dann wurde folgerichtig der Preis „Respekt ’05“ erstmals übergeben – für neue Lösungen zur Gesundheitsförderung. Über diesen Wettbewerb habe ich im Blog vom 2. Februar 2006 bereits berichtet. Und so bin auch ich jetzt um ein Diplom reicher. Das hat mein Selbstbewusstsein gehoben, und ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen: Das Burnout-Syndrom hat sich in den letzten 20 Stunden nicht eingestellt (und vorher wusste ich nicht so recht, was das ist).
Hinweis auf ein weiteres Blog zum Thema Gesundheitsförderung
02. 02. 2006: „’Preis Gesundheitsförderung’: Unmögliches ermöglichen“
Hinweis auf weitere Blogs von Hess Walter
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