BLOG vom: 02.04.2006
Im Oberwynental und Seetal. Ein nostalgischer Augenschein
Autor: Walter Hess
Heute bin ich wieder einmal das Wynental hinauf und das Seetal hinunter Richtung Aaretal gefahren. Eva sass am Steuer, und ich konnte mich unbeschwert in der Landschaft und in den Dörfern umsehen. In den ersten 1960er-Jahren haben wir dort gelebt und am 9. März 1963 im Gemeindehaus Reinach AG (Bezirk Kulm) geheiratet. Das ist im Familienbüchlein so vermerkt. Den Hochzeitsjahrestag vergessen wir meistens, nicht aber das Oberwynental.
Ich hatte in der Verlobungszeit im Hause der damaligen Bank Haerry AG (die 1982 von der UBS erworben wurde) am Marktplatz in Reinach ein Zimmer in der Wohnung von Fräulein Amalie Salm gemietet. Fräulein Salm war damals im hohen Alter, eine kleine, buckelige, treuherzig dreinschauende Person mit lebhaften Augen und erstaunlicher geistiger Vitalität. Sie verwöhnte mich manchmal mit einer Suppe, in der sich alles zum Stelldichein traf, was man in eine Suppe tun kann. Ein Gedicht von einem Gericht. Ich durfte bei solchen Gelegenheiten am ovalen Stubentisch essen, in einem kleinen Raum im Plüschstil, in dem alle möglichen Antiquitäten ausgestellt waren. Der Tisch war selber eine Kostbarkeit und sicherheitshalber mit einem Molton, einem angerauhten, weichen Stoff aus Baumwolle, bedeckt. Zum Schutze des kostspieligen und wahrscheinlich schwierig zu waschenden Moltons war ein abwaschbares, mit Pflanzenmotiven geschmücktes Wachstischtuch darüber ausgebreitet worden. Wahrscheinlich war dieses hitzeempfindlich, so dass zu dessen Schutz Stoffuntersätze angezeigt waren. Auf diesem weichen, sandwichartigen Aufbau konnte es nicht ausbleiben, dass das Trinkglas manchmal seinen Halt verlor, so dass eigentlich ausschliesslich reines Wasser als Getränk in Frage kam. Damit waren alle Risiken ziemlich eliminiert.
Wenn meine damalige Verlobte und heutige Ehefrau zu Besuch kam, gab es mit Fräulein Salm keine Probleme. Die nette alte Dame hatte Verständnis für allfällige Bedürfnisse junger Menschen nach Zweisamkeit und vielleicht weckten solche Begegnungen bei ihr Erinnerungen an die eigene Jugend, die ins 19. Jahrhundert hinein reichte. Und so wurde Eva, die immer kleine Geschenke mitbrachte, von Fräulein Salm nicht minder herzlich aufgenommen. Eva mietete dann mein Zimmer, und ich zog in eine kleine Wohnung im City-Block, etwa 300 Meter entfernt. Ein Zusammenleben ohne verheiratet zu sein wäre damals als unmoralisch empfunden worden, und mit meiner publizistischen Tätigkeit stand ich im Schaufenster der Öffentlichkeit. Da galt es, Haltung zu zeigen.
Wir hatten nun mehr Platz und konnten uns treffen, wo immer wir wollten. Nach der Heirat zogen wir als erste Mieter ins neue Hochhaus im Reinacher Unterdorf ein, zuerst in den 3. und dann, dem Baufortgang entsprechend, in den 5. Stock. Eva sagte heute, als wir dort vorbeifuhren, wahrscheinlich hätten wir in den damals ganz neuen Wohnungen auch etliche ausgasende Bauchemikalien abbekommen. Ja, man wusste damals nichts Genaueres. Baubiologie und Bauchemie waren noch keine Themen selbst für mich, der ich aus der chemischen Forschung in Basel gekommen war. Aber dort war es eher um die Beta-Karotin-Synthese (Provitamin A) gegangen. Und die Chemie ist ein unüberblickbar weites Feld.
Wir fuhren bei unserem heutigen Ausflug noch ein Stücklein gegen das luzernische Beromünster, wo der riesige Landessender steht und strahlt, das Symbol des Schweizer Radios von damals, das noch nicht amerikanisiert war. Schon am 1. Mai 1931 war der Mast des Landessenders Beromünster mit seiner Sendestärke von 60 kW (653 kHz = 459,4 m) dem Betrieb übergeben und am 11. Juni 1931 offiziell eingeweiht worden, lange vor unserer Zeit. Was die umgebende Bevölkerung an Elektrosmog inzwischen abbekommen hat, lässt sich heute abschätzen; aber grosse Teile der Fachwelt tun noch immer so, als ob man davon keine Ahnung habe. Ein Anwohner aus der Gegend der Gaststätte „Zum letzten Batzen“ mit Sichtkontakt zur Sendemastspitze oberhalb von Menziken erzählte mir einmal, dass sich sein elektronisch gesteuertes Garagentor jeweils morgens und abends wirklich automatisch geöffnet und geschlossen habe. Ein Gespenstertor, von Radiowellen ferngesteuert; der Mechanismus musste speziell isoliert werden. Und Radiosendungen konnte man aus dem oder mit dem Ohr am Dachkännel hören, der als Verstärker wirkte. Zudem fuhr dort auch noch die SBB (auf der 1992 stillgelegten Strecke Beinwil am See–Reinach AG–Beromünster) hin und her, die mit ihrer eigenen Frequenz strahlte. Die schmalspurige Wynen- und Suhrentalbahn WSB wurde vom Reinacher Unterdorf bis Menziken auf das SBB-Trasse verlegt, oberhalb von Menziken konnte die frei gewordene Fläche von den Anwohnern gekauft werden. Der Sendeturm Beromünster wird meines Wissens demnächst ausser Betrieb genommen.
Ich gönne das der liebenswürdigen Bevölkerung rund um Beromünster und im oberen Wynental von Herzen. Wir waren dort sehr freundlich aufgenommen worden und fanden viele Freunde. Ich leitete damals das in Menziken erscheinende „Wynentaler-Blatt“, und mein wichtigster Mitarbeiter war Theodor („Theo“) Grote, der viele Jahre in der Fremdenlegion gewesen war und nun mit lokaljournalistischen und pressefotografischen Einsätzen sein Brot verdiente, ein grosser, kräftiger und liebenswürdiger Mensch voller Tatendrang, der jeden Auftrag dankbar entgegennahm und den nichts aus der Bahn werfen konnte. Er brachte es fertig, über 3 bis 4 Abendunterhaltungen von Vereinen, die am Samstagabend gleichzeitig stattfanden, in Wort und Bild ausführlich zu berichten. Er stürmte mit Kamera und Notizbuch von Turnhalle zu Turnhalle und von Halle zu Saal, fotografierte, besorgte sich das vervielfältigte Programm, sprach mit dem Veranstalter kurz und schrieb nur Gutes, Lobendes über die Amateurkünstler, die ja wirklich alles, ihr Allerbestes gaben. Manchmal offerierte man ihm ein paar Wienerli mit Senf, ein Stück chüschtiges Brot und ein Glas Wein, was seine Phantasie zusätzlich anregte und ihm Kraft für den nächsten Einsatz gab. Wenn ein Lied oder ein Musikstück ausfiel oder ersetzt wurde, dann galt im Zeitungsbericht das gedruckte Programm und nicht etwa die Realität auf der Bühne. So verschmolzen Fiktion und Wirklichkeit schon damals. Und niemand nahm es dem gern gesehehenen Theo übel, wenn er im Zeitungsbericht Musikanten und ihren Dirigenten für ein Stück besonders lobte, das ausgerechnet ausgefallen war, weil der erste Trompeter mit einer Grippe darnieder lag. Man wusste um Theos übermenschlichen Einsatz und akzeptierte Patzer schmunzelnd. Er war ein Multiplikator des Wynentaler Geschehens, machte von seinen Berichten, die er mit seinen klobigen Händen in die Schreibmaschine haute, 5 bis 6 Kopien, um auch die Presse bis nach Baden zu bedienen.
Er wurde nach Zeilen mit 10, später 15 bis 20 Rappen honoriert, und die Frau Marie Baumann, die gute Hausseele in der gleichnamigen Menziker Druckerei, zählte sehr genau, und man hatte das Gefühl, dass angebrochene Zeilen ihr volles Zeilenhonorar nicht immer wert waren. Aber in anderen Sektoren liess sie dann wieder Grosszügigkeit walten, machte für Kopien keine Abzüge; ich sorgte vorsichtshalber immer dafür, dass von Durchschlagpapier gezeichnete Manuskripte in der Redaktion und in der Setzerei nicht unnötigerweise offen herumlagen. Jedenfalls kam die angesehene Druckerei über die Runden, und sie besteht erfreulicherweise bis heute und hat zufriedene Kunden.
Im Oberwynental hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges, aber nicht alles verändert. Alte Gebäude wie der Schneggen in Reinach, das Haus „Au Louvre“, das Gemeindehaus Menziken usf. stehen noch in alter Schönheit da, wertvolle Orientierungspunkte, die die Zeit überdauert haben. Und zwischen Reinach und Menziken sind sogar noch Schienen der Wynen- und Suhrentalbahn (WSB) im Asphalt, nur zum Teil überdeckt. Die Bahn ist eigenterrassiert, von der Strassenbahn zur richtigen Bahn (AAR) mutiert. Und das Hochhaus der Alu Menziken aus Aluminium, das Wahrzeichen beim unteren Eingang nach Menziken, hat die Beständigkeit dieses Materials unter Beweis gestellt.
Bei untergehender Sonne fuhren wir durchs Seetal von Beinwil am See über Boniswil Richtung Seon und Schafisheim. Das rechte (östliche) Hallwilerseeufer mit Meisterschwanden und Seengen erstrahlte nach einem Regentag im wunderbaren Abendlicht. Das von Schilf bewachsene Seenger Moos beim nördlichen Ausgang des in einer sanften heimatlichen Mulde gelegenen Hallwilersees trug noch die winterliche Braunfärbung, bereit für ein ungestümes Wachstum im bereitstehenden Frühling mit seiner Explosivkraft. Die Seetaler haben ihre wunderschöne Landschaft gut über die Runden gebracht, sie nicht verklotzend verschandelt.
*
Das wars dann schon. Ein bisschen Vergangenheit, nichts Spektakuläres. Man ist in dieser Zeit dankbar, wenn man noch ein paar Anhaltspunkte findet, die belegen, dass doch noch nicht alles umgewandelt und zerstört worden ist. Mit etwas Sinn für Wohnlichkeit könnte das Oberwynental, das vor über 40 Jahren mein journalistisches Hauptthema war, seinen Charme als Oase der Beschaulichkeit im Umfeld von Innovations-Verwirrungen weiterhin bewahren und sogar ausbauen. Denn auch das Baugewerbe muss gelebt haben. Man muss ihm bloss die richtigen Aufträge erteilen.
Hinweis auf ein weiteres Blog mit Bezug zum Oberwynental
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