BLOG vom: 05.04.2006
Hellseher, Wunderbrillen und optische Täuschungen
Autor: Emil Beschnonga
Augenmenschen sind wir, und der Augenschein kann sich oft täuschen. Die Fata Morgana, eine Fee, zaubert Seen vor unsere Augen, eine Mirage oder Luftspiegelung. Der Föhn rückt die Berge näher – ebenfalls eine optische Täuschung. Übrigens ist Föhn ein Schweizer Wort, das im Englischen fehlt. Der Föhn kann Kopfschmerzen und Schwindelgefühle auslösen. Mancher Chirurg legt an Föhntagen das Skalpell aus der Hand. Auch ich bin föhnanfällig, eben wie heute, wenn ich Unsinniges schreibe und folglich schwindle. „Verzell du das em Fährima(nn)“ bezeichnet in der Basler Mundart eine Lügengeschichte, die ich hier beginne.
Der Hellseher
Er fand es komisch, dass es draussen kurz nach 6 Uhr abends noch nicht dämmern wollte. „Für Mitte November bleibt es lange hell“, meinte er zu seinem Kollegen gewandt. Als dieser schwieg, setzte er bedächtig hinzu: „Meinetwegen ginge es auch ohne Licht.“ Entgeistert starrte ihn sein Pultgegenüber an, die 3. Ziffer einer 6-stelligen Zahl im Zeigefinger behaltend, statt sie in die Additionsmaschine zu geben. „Hältst du mich zum Narren?“, schnaubte Gälwiler verärgert und haute die 5 in die Taste.
Der Angepöbelte, Herr Schnider hiess er, riet Gälwiler spitz: „Du gehst besser zum Optiker.“ Herr Schnider stand auf und knipste das Licht aus. „Wie du siehst, geht es ja auch ohne Licht!“
Der sonst gutmütige Gälwiler lief rot an und sprang aus seinem Sessel. „Ich lasse es ja brennen, du Dummkopf, wenn du darauf bestehst“, renkte Schnider rasch ein und knipste das Licht wieder an.
Der Bürofriede schien wieder einigermassen gesichert, obwohl Gälwiler zwischen den Zahlen weiterhin den Kopf schüttelte und murmelte: „So etwas!“ Nach Arbeitsschluss schieden sie beidseits, kurz angebunden.
Wie unvernünftig die Leute doch sind, dachte Schnider auf dem Heimweg zu sich. Überall brennt das Licht, und es war doch noch so hell! Als ihn ein Scheinwerfer anleuchtete, tippte er gegen die Stirne.
Wie immer um 7 betrat Schnider seine Wohnung. „Sag mal, Lisbeth, ist es draussen schon dunkel?“ fragte er seine Frau.
„So dumm hast du noch nie gefragt …“, bekam er zur Antwort. „Wenn du dein Abendessen willst …“, fertigte sie ihn ab und verwies ihn aus der Küche.
Als das Essen aufgetischt war, rief sie ihn umsonst. Schliesslich ging sie ins Wohnzimmer. Er macht wohl ein Nickerchen, nahm sie an und knipste das Licht an.
„Herbert, wie oft muss ich dich rufen?“ sagte sie vorwurfsvoll. „Nicht zu glauben! Was tust du hier im Dunkeln und antwortest mir nicht?“
„Wie du siehst, lese ich bloss die Zeitung.“
Zum Glück hatte Lisbeth, im Gegensatz zu Gälwiler, Sinn für Humor und lachte.
Die Wunderbrille
Ich hatte bis nach Mitternacht unter der Halogenlampe gelesen. Als ich endlich ins Schlafzimmer hinauf stieg und die Brille auf dem Tischchen davor ablegte, das Licht ausknipste und mich wie gewohnt von der Schrankecke der Bettkante entlang zu meiner Seite entlang tasten wollte, war es hell genug im Zimmer. So brauchte ich mich nicht ins Bett vorzutasten.
Kaum lag ich im Bett, hatte ich das Gefühl, dass ich meine Brille noch immer trug. Die Brillenränder schienen auf der Netzhaut eingebrannt zu sein. Ich schaute zur Zimmerdecke hoch, die – wie kann ich das sagen? – matt-weiss flackernd fluoreszierte.
Ich drehte den Kopf gegen das Balkonfenster. Die Vorhänge sind bei uns nie ganz zugezogen. Auch draussen war es recht hell. Das mochte wohl dem Mond zuzuschreiben sein. Ausserdem haben wir in London den Widerschein der Stadt, der alle Sterne verschluckt. Die Zweige der Birke geisterten durchs Fenster. Dazwischen erkannte ich sogar Geistergesichter und war davon begeistert. Vielleicht hat das Föhnwetter diese Fata Morgana ausgelöst. Es kam wie es musste, die Augendeckel fielen mir schliesslich zu. Doch noch immer hielt eine gewisse Helle darunter an, kreisförmig wie von der Brille eingefasst.
Gern überlasse ich mich im Zwischenstadium zwischen Schlaf und Wachsein dem Gedankenspiel. Dass es diesmal um die Wunderbrille ging, wunderte mich nicht. Ich musste dem Erfinder dieser Wunderbrille zuerst ein Spezialwissen der Informatik andichten und ihm gleichzeitig eine berufliche Qualifikation als Optiker mitgeben. Also hantierte er mit Mikroelektronik so leicht wie ich Butter aufs Brot streiche. Andere haben schon gewaltig viel Vorarbeit geleistet, damit der Mensch in der Nacht sehen kann, um Verbrecher zu jagen oder den Gegner ins Zielfernrohr zu kriegen. Leider ist der Feind ähnlich ausgerüstet.
Mein Erfinder aber hat etwas Besseres entdeckt. Im Brillengestell hat er eine Mikrozelle eingepflanzt. Wer etwa im Bett noch ein Weilchen ohne Licht und Nackenstarre lesen möchte, konnte zuvor sogar die dicke Sonntagszeitung, wie zum Beispiel „The Sunday Times“, in diese Lesezelle aufladen. Da ich scheinbar die Brille noch immer trug, aktivierte ich diese Zelle – und fürwahr hatte ich die ganze zuletzt gelesene Buchseite klipp und klar vor Augen und konnte sie nachlesen. Dabei bin ich in den Schlaf gerutscht.
Aber dieser Gedanke hat mir so viel Spass gemacht, dass ich ihn in der nächsten Nacht weiterverfolgte. Diese kleinsten Zellenpillen, auch Hirngespinste genannt, sind austauschbar. Der Autofahrer schätzt die Navigationshilfe. Mit dieser Pille im Gestell ist ihm der Weg durch die Brille vorgezeichnet – er kann sich ohne Ablenkung auf den Verkehr konzentrieren. Eine zusätzliche Zelle verhindert Strassenunfälle und ist mit der Elektronik des Autos verbunden, die bei Gefahr automatisch den Wagen mitsamt Fahrer und Passagieren vor Schaden schützt.
Nun will ich diese Geschichte nicht wie ein Kaugummi in die Länge ziehen und überlasse deshalb den Fortverlauf der Erfindergabe des Lesers und der Leserin.
Wer dem Augenschein misstraut und sich von optischen Täuschungen befreien will, dem steht die Technologie bei. Nur versalzt mir das den Spass. Ich bleibe lieber in der Gesellschaft der Fee Morgana.
Hinweis auf weitere Feuilletons von Emil Baschnonga
29. 01. 2006: „Wie die grosse Liebe vom Rad fiel – oder in die Hand“
23. 12. 2005: „Eine Weihnachtsgeschichte: Das Bistro ‚Zum Déjeuner’“
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